Blick durchs Schaufenster. Bruno Goller in Bonn
Was macht ein gutes Gemälde aus? Das, was ihm persönlich eigen ist – oder das, was es mit anderen Bildern gemeinsam hat? In unseren Augen gibt das Werk von Bruno Goller im Kunstmuseum Bonn auf diese Frage gerade eine beglückend mulmige Antwort. Wie bei den krummen Schrauben.
In unserer Sauerländer Kindheit sammelten wir eine Zeit lang Schrauben. Wir drehten sie aus Sperrmüll-Holz oder lasen sie vom Boden auf, irgendwo lag immer eine rum, und wenn wir eine Handvoll zusammen hatten, dann brachten wir sie zu Metallwaren Fritz Sondermann in die Bahnhofstraße.
Schon durch das Schaufenster sahen wir Herrn Sondermann in seinem blauen Arbeitskittel weißhaarig hinter seiner Theke stehen, den dünnen Körper mit gespreizten Fingern auf dem Tresen abgestützt: Er hatte uns erwartet. Und links und rechts und hinter ihm erhoben sich meterhohe Wände aus Tausenden von kleinen Fächern.
Sobald Herr Sondermann unsere Ware abgewogen hatte, begann er mit der Professionalität des Eichhörnchens, die Einzelschrauben über eine hohe Leiter in die Fächer zu verteilen. Für jede gefundene Schraube gab es irgendwo ein Fach: Auf einem Bein tänzelnd fand Herr Sondermann immer auf Anhieb das richtige. Es war faszinierend anzusehen.
Bei krummen Schrauben indes zuckte Herr Sondermann nur mit den Achseln. Diese Schrauben-Unikate nahmen wir, beglückt von mulmigen Gefühlen, wieder mit nach Hause. Das Geld für den seriellen Rest investierten wir in Brausestangen.
Fach auf, Bild rein, Fach zu
Heute kommt uns die Kunstgeschichte bisweilen ein wenig wie der wunderliche Metallwaren-Laden des Herrn Sondermann in der Bahnhofstraße vor: nur eben mit sorgsam beschrifteten Fächern. „Surrealismus“ steht auf den Fächern, „Magischer Realismus“ oder „Neue Sachlichkeit“.
Kommt man mit einer Handvoll Bildern, dann öffnet irgendein weißhaariger Experte im blauen Arbeitskittel die entsprechenden Fächer, um sie mit der Professionalität des Eichhörnchens tänzelnd darin zu versenken. Immer findet er auf Anhieb das richtige.
Fach auf, Bild rein, Fach zu. Es ist faszinierend anzusehen.
Aber was passiert, wenn einmal ein krummes Bild kommt, so ein sperriges Schrauben-Unikat, das sich den Fächern standhaft widersetzt? Klar: Dann zuckt die dünne Kunstgeschichte mit den Achseln.
Das aber sind eben jene Bilder, die uns mulmig beglücken, die wir am liebsten mit nach Hause in die KunstArztPraxis nehmen, denn wir sind der Meinung, dass das Besondere, Einzigartige viel interessanter, viel berührender ist als die Gemeinsamkeit. Womit wir endlich bei Bruno Goller wären.
Wir könnten jetzt auch Fächer öffnen
Wir könnten natürlich jetzt auch Fächer öffnen: vor allem biografische. Wir könnten schreiben, dass Bruno Goller in seinem Geburtsort Gummersbach – also ganz in der Nähe unserer Sauerländer Jugend! – früh schon Schaufenster dekoriert hat. Dass er vielleicht so viele Hüte malte, weil seine Mutter Modistin war, dass er früher gerne mit der Sahnespritze des Konditors hantierte, was so manches Motiv und sein Faible für Bordüren erklären könnte. Dass ihn der Tod der Mutter noch mehr als der Tod des Vaters schmerzte.
Nur wären uns dann die Bilder schon entglitten: Wir würden sie von oben herab hilflos zu Boden schweben sehen wie Herbstlaub. Denn das Schwanken zwischen den Fächern auf unseren hohen Leitern hätte uns ganz schwindelig gemacht.
Wir müssen es uns eingestehen: Wesenhaftes schreiben über Bruno Gollers Bilder können wir nicht. Wir können eigentlich nur erzählen, wie wir mit fast schon schlechtem Gewissen versuchten, in diese unbekannte, fremde, sehr intime Ordnung einzutreten, uns in die freskenhafte Flächigkeit tief hineinzudrehen wie eine Schraube in edles Holz. Denn der Sog der Bilder war magisch.
Natürlich mussten wir scheitern: Es war immer ein feiner Schleier zwischen uns und Gollers flachen Räumen, ein augenbrennender Dunst wie vom verdünnten Dampf der Eisenbahn an Herbst- und Wintertagen. Oder, anders: Wir mussten mit gebührlichem Abstand vor Gollers zauberhaften Fenstern stehen bleiben.
Hineingelassen in seine Zimmer, seine Häuser, seine Bilder hat uns der Maler nicht.
Was wir hinter der Scheibe sahen
Natürlich können wir auch erzählen, was wir hinter der Scheibe sahen. Wir sahen die unheimliche Präsenz von etwas Verschwundenem, vielleicht nie Dagewesenem, das Vergehen einer Liebe, die unter Umständen nie begonnen hatte, ein Verticken von Zeit, die stehen geblieben war. Und all dies sahen wir durchweht von einem Farbe gewordenen Duft aus Fachwerk, Wolken, Rosen und Kaffee.
Es war eine Welt der verlorenen Ahnenbilder und plattgetrockneten Blumensträuße, der Zylinder und Regenschirme, der Ohren-Sessel, Schneider-Scheren und Kanapees, der fehlenden Porträts in blinden Spiegeln und der unsichtbaren Schatten junger Mädchenblüte, unerhört gerahmte Erinnerungen an nie gemachte Erlebnisse, es war verrückt! Und ein atemberaubender Blick in die betörenden Auslagen des Malerischen war es auch.
So irgendwie.
Nicht, dass wir uns missverstehen: Natürlich ist da auch ein Anhauch von „Surrealismus“ und „Magischem Realismus“ und „Neuer Sachlichkeit“ in Bruno Gollers Werk! Man malt ja nicht im Nirgendwo. Aber wenn, liebe Kunstgeschichte, dann gebührt einem wie Bruno Goller eben ein komplett eignes Fach.
Im Grunde ist es halt wie bei der Erklärung vom langen Bremsweg nach dem tödlichen Autounfall am Anfang von Robert Musils Roman „Der Mann ohne Eigenschaften“ (1930): Die technische Einordnung des Herrn wiegt die Dame in trügerischer Sicherheit, nur: Das Unbestimmte, nicht Zuzuordnende bleibt ja trotzdem da! Selbst dann, wenn man das mulmige Gefühl in der Herz-Magengrube nicht mehr spürt.
Gerade dieses Mulmige aber haben wir in dieser grandiosen Goller-Retrospektive sehr stark empfunden. Selbst ein so professionelles Eichhörnchen wie Herr Sondermann nämlich hätte das Unbestimmte, nicht Zuzuordnende auf diesen Bildern in keinem Fach der Welt versenken können, so himmelhoch er in der Bahnhofstraße auch geklettert wäre. Das haben wir im Kunstmuseum Bonn begriffen.
Und als wir nach den Stunden staunender Betrachtung wieder gingen, da lag uns der saure Geschmack von Brausestangen noch melancholisch auf den Zungen. (27.10.2024)
„Bruno Goller. Retrospektive 1922–1992“ ist noch bis zum 19. Januar 2025 im Kunstmuseum Bonn zu sehen. 75 Gemälde und einige Zeichnungen sind versammelt, es gibt eine bewundernswerte Kontinuität, über die gesamten 70 Jahre. Auch so kann man Zeit und Raum verschwinden lassen. Das mussten wir dann doch noch sagen.
Anmerkung 1: Bevor Beschwerden kommen: Na-TÜR-lich tun wir der Kunstgeschichte bitter unrecht – das ist ja unser Auftrag! Fächer HABEN ihren Sinn, lange Bremswege SIND Erklärungen. Nur eben nicht für uns. Wir möchten lieber in Metaphern sprechen, in teils biografischen Gleichnissen, literarisch quasi. Weil das den Bildern vielleicht näher kommen könnte. Punkt & Schluss.
Anmerkung 2: Und hier noch das „Schreitende Mädchen“ in seiner natürlichen Umgebung im Rosa Haus des Museums Insel Hombroich, wohin es nach der Ausstellung sicher wieder wandert. In DIESES Haus durften wir nämlich vor ein, zwei Jahren mal hinein:
Das Kunstmuseum Bonn in der KunstArztPraxis:
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