Ein Tod verschwindet: Harald Naegeli in Köln
Das Museum Schnütgen erinnert an den „Sprayer von Zürich“ Harald Naegeli, dessen Graffitis in den 1980er Jahren wegweisend für die Street Art wurden – und der auf der Flucht vor der Schweizer Polizei lange in Köln und Düsseldorf gelebt hat. Wir bedichten sein Verschwinden im Stadtraum.
Vor kurzem haben wir wegen Putin, dem Schnitter, unseren OP-Plan geändert und eine eher humoristisch angehauchte lyrische Hommage an Martin Kippenberger auf unbekannte Zeit verschoben. Ein etwas melancholischeres Gedicht auf den Tod und die bisweilen verblassende Freiheit der Kunst passt momentan aber vielleicht doch ganz gut wie die Faust aufs diktatorische Auge.
Oder, um es mit den Worten des leider schon schwerkranken Harald Naegeli zu sagen, mit denen er vor Kurzem seine Ausstellung im Kölner Museum Schnütgen eröffnet hat:
„Meine Zeichnungen zeigen deutlich, dass ein absurdes, abruptes, apokalyptisches Ende jederzeit möglich ist. Der jetzt eskalierende Krieg, von Putin angezettelt, zeigt, wie unberechenbar das menschliche Handeln und Tun ist. Es zeigt ein weiteres Mal, dass die Utopie, die der Grund unseres Daseins ist, vollständig fehlt und vergessen wird.“
Die folgende Dosis Dichtung gilt also auch dem Schnitter Putin. Und die darin bedichtete Apokalypse sogar dem Tod.
Ein Tod verschwindet.
Für Harald Naegeli
Heut‘ haben wir den Tod gesehn.
Er hing an einer Mauer.
Er war nicht mehr zum Sterben schön,
Wohl auch zu schwach fürs Niedermähn,
Und selbst in tiefster Trauer.
Wir hätten ihn fast nicht erkannt,
Den Ausbund an Gebrechen.
Fast wären wir vorbeigerannt
Am Todestorso an der Wand,
Da hörten wir ihn sprechen:
„Ihr seid doch Arzt! (Und Humorist!)
Drum, bitte, kurz verweilen!!
Denn was mir widerfahren ist,
Von Alpha bis zur Galgenfrist,
Das passt in 20 Zeilen.
Am Anfang stand ich illegal
In meinem hohen Bogen.
Wir waren viele an der Zahl
Die in dem Großstadtjammertal
Um die Häuser zogen.
Dem Exitus entrann ich da
Als fröhliches Gerippe.
Banausen, Priestern, Sprayern, ja:
Dem Amt für Unterhaltung gar
Sprang ich einst von der Schippe.
Dann kam das Amt für Denkmalschutz
Und mit ihm kam das Sterben.
Bald bin ich nur noch Sprühlackschmutz
Wer wird mich dann als Kirchenputz
An meiner Wand beerben?
Farblos muss ich als alter Mann
nunmehr vom Leben lassen.
Was einmal fröhlich frech begann
Mit einem Totentanzgespann
Ist einsames Verblassen.“
So wird sogar der Tod vergehn.
Doch eines bleibt zu sagen:
Wird er dereinst auch ganz verwehn,
So haben wir ihn noch gesehn
In seinen letzten Tagen.
Anmerkung 1: Zumindest die Frage, wer Naegelis Tod an der Kirchenwand beerben soll, ist dank Bananensprayer Thomas Baumgärtel inzwischen geklärt: Es ist der Schnitter Putin. Einen zweiten Gevatter des Diktators hat Baumgärtel an der Turiner Straße/Ecke Thürmchenswall angebracht, wo früher mal ein längst weggereinigter Naegeli-Schädel prangte. Ein fröhlicher Tod verblasst, ein grimmiger Tod taucht auf. Möge sein unmenschliches Pendant tatsächlich für immer im Knast verschwinden.
Ergänzung zu Anmerkung 1 (03.04.2021): Wir schrieben „Schnitter“. Wir hätten „Schlächter“ schreiben sollen.
Anmerkung 2: Auch das Werk Harald Naegelis ist inzwischen mit dem kapitalistischen Bilderverbot der Unsichtbarkeits-Maschine belegt. Es hier einfach so für die Ewigkeit abzubilden ist fast so illegal wie Kirchenwandbesprühen. Uns vom Amt für Sichtbarkeit & Sichtschutz geht das natürlich mächtig auf den Zeiger. Denn zur Freiheit der Kunst gehört unserer Meinung nach auch die demokratische Möglichkeit, dass man sie Allen möglichst jederzeit zeigen darf. Sehr gerne jedenfalls hätten wir Naegelis beeindruckende Zeichnungen gezeigt, denen die Kölner Schau vor allem gewidmet ist. Geht aber nicht in dieser Form.
Die Ausstellung „Harald Naegeli in Köln. Sprayer und Zeichner“ ist noch bis zum 12. Juni 2022 im Kölner Museum Schnütgen zu sehen. Ausdrücklich hinweisen möchten wir auf den ebenso schönen wie informativen Katalog, der auch viel sagt zu Naegelis Zeit in Köln.
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Der Sprayer von Zürich in Zürich
Es ist ziemlich einfach zu vergessen. Zu vergessen, dass es in der Ukraine einen Putsch gab. Zu vergessen, dass die USA ihn angezettelt haben. Zu vergessen, dass mit dem Asowbataillon Nazis an die Macht kamen. Zu vegessen, dass Putin gwarnt hat. Zu vergessen, dass Selenski das Minsker Abkommen unterzeichnet hatte. Zu vergessen, dass Deutschland als Mitunterzeichner ihn hätte zur Umsetzung ermahnen müssen.
Und zu sagen Putin wäre an allem Schuld.
Das lässt das eigene Unbehagen vergessen.
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Hier die Antwort des von der KunstArztPraxis hinzugezogenen Politologen:
„Stimmt: Es ist sehr einfach zu vergessen. Zu vergessen, dass der „Putsch“ in der Ukraine ein Aufstand vor allem von Demokraten gegen einen von Russland finanzierten korrupten Oligarchen war. Zu vergessen, dass das 900 Mann umfassende Regiment Asow zwar Neonazis enthält (klar gibt es Rechtsextremismus in der Ukraine – wie auch in Russland oder Deutschland), aber nirgendwo „an die Macht kam“, sondern im Osten der Ukraine gegen Putins dort schon 2014 völkerrechtswidrig einmarschierte Truppen kämpft. Zu vergessen, dass Selenski das Minsker Abkommen natürlich NICHT unterzeichnet hat (das war Petro Poroschenko). Und zu vergessen, dass Putin eben jenes Abkommen mit der Anerkennung der Separatistenregionen Donezk und Luhansk einseitig aufgekündigt hat.
Also die Wahrheit zu vergessen zugunsten von Propaganda.
Aber die komplexe Vorgeschichte ist sowieso völlig nichtig angesichts der Gräueltaten von Putins Soldaten und Söldnern, angesichts der vergewaltigten Frauen, der erschossenen Kinder, der gefolterten und wahllos hingerichteten Bewohner, der Kriegsverbrechen nicht nur in Butscha, der bombardierten Waisenheime, Schulen und Kindergärten und der Komplettzerstörung von Mariupol. Daran ist einzig und allein Wladimir Putin Schuld. Wer das dadurch beschönigt, dass „Putin gewarnt hat“ (vor wem denn? vor sich selbst?), der sollte sich was schämen.“
Ende der Diskussion.