In Wunderkammern 4: Hans von Hoermann, Prien
Hans von Hoermann war der letzte Inka von Prien am Chiemsee. Erst nach seinem Tod durften wir sein Reich betreten. Und fanden dort eine rätselhafte Knotenschrift. Wir haben versucht, sie zu entziffern: mit Worten und mit Bildern. Dabei liegt ihr Reiz natürlich darin, dass sie kryptisch bleibt.
Als die spanischen Konquistadoren unter dem Kommando des Analphabeten Francisco Pizarro im 16. Jahrhundert in Tawantinsuyu landeten, um die herrschende Kultur auszulöschen, hatten die Inka eine „Quipu“ genannte Geheimschrift, die den Eroberern, ihrer rätselhaften Fremdheit wegen, gefährlich erschien.
Diese Schrift bestand aus einem Geflecht diverser Knoten, das nur von Eingeweihten, den Quipucamayocs, geknüpft und entziffert werden konnte.
Der profanere Teil der Quipus diente den Inka zur Verwaltung von Mengen und Maßen in ihrem riesigen Reich südlich des Titicacasees.
In ihrer komplexeren Form aber hielten die Quipucamayocs die Mythen und Erzählungen ihres Volkes in der Knotenkodierung fest. Zumindest glaubt das die Sprachwissenschaft, denn die Geheimschrift ist bis heute nicht entschlüsselt.
Von den einst wohl Millionen Quipus existieren heute gerade noch etwa 800: Die Konquistadoren haben einen Großteil aus Furcht und Ignoranz zerstört.
Die Geschichten der Quipucamayocs sind mit der Kultur der Inka verloren. Aber im Bild ihrer Knoten leben sie als Verheißung weiter wie beim Zauber eines Fetischs.
Das Reich Hans von Hoermanns in Prien am Chiemsee, das wir nach dem Tod des Künstlers im September 2023 vor seinem Untergang für uns entdecken durften, war dem Raummaß nach natürlich ungleich kleiner als das Riesenreich der Inka. Aber das Atelierhaus war trotzdem bis unters Dach angefüllt mit der Verheißung auf Geschichten.
Und es besaß eine als „Quipu“ ausgewiesene Knotenschrift: Hans von Hoermann hatte sie auf einem seiner Werke – namentlich auf einem Materialbild im Atelierraum, das zwischen einem weißen Vitrinenschrank mit Horror-Videos und einem Dschungel aus Underground-Comics und Foto-Magazinen versteckt war, – selbst so bezeichnet.
Die ersten Exemplare dieser rätselhaften Knotenschrift entdeckten wir auf der Toilette: Hans von Hoermann hatte ja mit seiner Kunst gelebt, das ganze Haus war möbliert mit ihr.
Der „unverkäufliche Leihsack“
Das eine Quipu stand unter dem Waschbecken: hinter einer schwarzen Büste, die ein Abbild des Analphabeten Francisco Pizarro hätte gewesen sein können. Das andere Quipu lehnte an einem Gewirr über Putz verlegter Rohre.
Kombiniert waren diese Quipus mit Alltagsgegenständen und Fundstücken, die Hans von Hoermann vielleicht aus seinem 1974 aufgegebenen Laden für „Textilien, kunsthandwerkliche Gegenstände und Modeschmuck“ in Schwabing ins geerbte Atelierhaus seines Großvaters, des Malers Bernhard Klinkerfuß, nach Prien an den Chiemsee mitgenommen hatte:
Als Teil jener für den gelernten Schreiner typischen, fast immer nach Varianten eines bestimmten Schemas mit Rahmen unterteilten Objekt-Kästen, die in unseren Augen, ihrer rätselhaften Fremdheit, ihres Fetischs wegen, seine faszinierendsten Werke sind.
Kombiniert mit seltsamen Bürsten, die aus der dunklen Tiefe des Rahmens hervorzuschnellen schienen, mit zerlegten Handfegern und textilen Strukturen aus edlen Stofftapetenmustern oder grobem Leinen, von denen letztere der laut unserer Recherche 1951 liquidierten „Brandenburgischen Hauptgenossenschaft e.G.m.b.H.“ zuvor als „unverkäuflicher Leihsack“ gedient hatte.
Hans von Hoermann mag ein schwieriger Mensch gewesen sein, aber er hatte Humor.
Schon während unserer Entdeckungsreise durch Hans von Hoermanns Atelierhaus kämpften einige der empfindlichsten Quipus gegen die Zerstörung an: Ihre Konquistadoren waren die Motten. Eine beachtliche Anzahl von ihnen hatte sich aber doch in sehr schönem Zustand erhalten.
Der Stoff, aus dem die Schriften sind
Die Geheimschrift dieser – damals überall im Haus verteilten – Objekt-Kästen ist ja nicht nur aus Seilen geknüpft, sondern auch aus beständigerem Obermaterial:
Aus Gürteln, Elektrokabeln, Buchrücken, den Fronten von Reisekoffern oder Collagen ausgequetschter Zahnpasta- und Klebstofftuben.
Alles Elemente, die sich auf erstaunlich evidente Art und Weise mit den Maserungen und Strukturen der Flächen aus Stoff, Schiefer oder Leder auf der Fläche unter ihnen zu einer phantastischen Einheit fügen.
Wir haben versucht, Hans von Hoermanns Geheimschrift zu lesen, uns als Eingeweihte zu gerieren: Jeder dieser Fetisch-Kästen ist ja mit der Verheißung auf Geschichten aufgeladen.
Könnten hinter den Verschnürungen der Korsetts nicht schöne Körper schlummern, hinter den Gürteln Geschlechtlichkeit? Und müssten hinter diesen Hölzern nicht Wälder lauern, hinter den Buchrücken ganze Bücher – Bücher von William Seward Burroughs oder Robert Crumb, Bücher, von denen Hans von Hoermanns Atelierhaus bei unserem Besuch nur so gewimmelt hat?
Natürlich mussten wir scheitern. Natürlich sind keine Geschichten in diesen Objekten verborgen, sie sind ja nicht Wort, sie sind Bild, Textur, nicht Text. Alles plumpe Narrative liegt ihnen gänzlich fern. Das ist ja ihr Reiz.
Hinter den Schnürungen dieser Korsetts versteckt sich kein Körper – weil sie selbst der Körper sind. Diese Hermetik gaukelt nichts Öffnendes vor. Da ist kein „Inhalt“ jenseits der Erscheinung, die Verheißung läuft ins Leere.
Selbst da, wo Schrift erkennbar ist, wo der Schiefer von Tafeln beschrieben ist, ist sie rein visuelles Palimpsest. Das ist Hans von Hoermanns ganz eigene Sprache. Und es ist natürlich die der Kunst.
Der unauflösbare Gordische Knoten
Noch deutlicher als in den Objektkästen ist uns dies bei den Collageheften Hans von Hoermanns aufgegangen:
Hier hat der Künstler am hauseigenen Kopierer Bildausschnitte und Text-Fragmente aus Mangas und Untergrund-Comics, Nachrichten-Magazinen oder den Reklame-Heftchen mit Angeboten heimischer Discounter so lang übereinander und durcheinander geschichtet, bis in der Neuverknüpfung ein babylonisches, raum-zeitloses, unleserliches Tohuwabohu übrig blieb.
Die ursprünglich einmal linearen Stränge der Comics sind verschwunden, jede „Botschaft“ vernichtet: Dieser Gordische Knoten ist durch nichts mehr auflösbar.
In der Geheimschrift Hans von Hoermanns ist nur noch das Geheimnis, das Rätselhafte: als neue Verknüpfung, aber, eben: als bloßes Bild, geblieben. Das ist, glauben wir, der rote, komplett zersplissene Faden.
Sinnbild dieses roten Fadens war für uns der quadratische Metalltisch im Atelierraum – der einzig wirklich helle Raum des überdunklen Hauses.
In seinem Wirrwarr übereinander- und nebeneinandergestapelter, von Hans von Hoermann bereits ausgeschnittener Figuren wirkte er auf uns damals schon wie ein Skulptur gewordenes Scrapbook seines Wirkens, mit seinen säuberlich auf zwei Zwischenböden gestapelten, fertiggestellten Kopiercollage-Heften wie ein Speicher seines grandiose Sinnlosigkeiten produzierenden Tuns.
Und über allem thronte – neben einem Blatt mit dem absurd aus dem Zusammenhang gerissenen Imperativ-Wort „ERZÄHLT“ – als Memento Mori ein menschlicher Schädel mit offenem Hirnkasten.
Wie schon gesagt: Hans von Hoermann hatte Humor.
Für uns ist der Arbeitstisch der perfekte Ausdruck jenes manischen Maelstroms eines Tuns, das sich, offenbar seit den Achtzigerjahren, im Atelierhaus Hans von Hoermanns tagtäglich aufs Neue zu einer unüberschaubaren Unendlichkeit verwirbelt hat, selbst auf der kleinen Fläche des durch Arbeit unbrauchbar gemachten Arbeitstischs: die aus dem Schädel nach außen herausprojizierte Phantasmagorie vom Arbeitshirn des Künstlers.
Allein das, was auf den Tischen des Atelierraums an Rohmaterial noch lag, hätte für drei weitere Künstlerleben locker ausgereicht.
Der Arbeitstisch im Atelierraum war Installation geworden: eine Verknotung mehr.
Und als solche mit dem ganzen Atelierhaus, mit allen diesen Arrangements aus Schneekugeln und Kinderpuppen, afrikanischen Figuren und indonesischen Masken, chinesischen Plastik-Drachen und Katzen-Girlanden, Bienenwaben und Muschel-Stelen, historischen Gemälden und Postern indischer Gottheiten, präparierten Schmetterlingen und Perlenketten, Spazierstock-Bouquets und katholischen Devotionalien, abgegossenen Zahnreihen und Halloween-Fledermäusen, dem Schrecken vom Amazonas und der Herrscherin der Dunkelheit Elvira in einem musikkassettengleichen Sampling aus Trash, Punk, Gothic, Jazz & Porno zu einer Einheit verknüpft.
Hans von Hoermann hat ja nicht nur mit, er hat vor allem in seiner Kunst gelebt. In diesem Atelier war alles in einer riesigen Installation miteinander verknotet, wie bei einem begehbaren Quipu: eine Art noch gerade bewohnbarer Geheimschrift, die vielleicht sogar Hans von Hoermann mit allen ihren labyrinthischen Wucherungen nicht mehr bis ins Letzte entziffern konnte.
Die Schneise vom Kleinen zum Großen zum Kleinen
Auf unserer Expedition haben wir die Schneise vom Kleinen – Hoermanns unentzifferbarer Knotenschrift – zum großen Ganzen – Hoermanns unentzifferbaren Atelierhaus – geschlagen, aber wir müssen am Ende doch noch einmal kurz auf etwas ganz Kleines zu sprechen kommen: Hans von Hoermanns Polaroids.
Es gab viele davon im Atelierhaus: verknüpft in seiner Kunst, oft pornographisch; aber auch in Stapeln oder lose liegend, wie eine Spur verteilt.
Zwei dieser Polaroids sind uns besonders aufgefallen: im Erdgeschoss, auf einem Tisch hinter einer Landschaft aus lauter Schneekugeln, über die einmal ein psychodelischer Farbwechsler wie eine Sonne über einem entfernten Planeten rotiert haben soll.
Das eine Polaroid ist ein Selbstporträt Hans von Hoermanns, zumindest glauben wir das. Das andere zeigt ein Madonnenbildnis, dem Hans von Hoermann eine venezianische Karnevalsmaske übergestülpt hat, bevor er das Arrangement fotografierte.
Zwei Dinge finden wir bemerkenswert: dass die verkleidete Madonna durch die neue, ja eigentlich entlarvende Verknüpfung auf dem Polaroid wie ein Alien wirkt – das ist das eine.
Und das zweite: Dass Hans von Hoermann diesem von ihm erschaffenen Alien in unseren Augen zum Verwechseln ähnlich sieht.
Vermutlich sind also beides Selbstporträts. Wir glauben nämlich: Hans von Hoermann war da, wo er lebte, in Prien südlich vom Titicacasee, dem höchsten von Schiffen befahrbaren See der Erde, unter all den eingefallenen Touristen, unter all den Horden Magersüchtiger, in diesem polaroidschen Sinn ein Alien.
Der letzte Quipucamayoc unter lauter Konquistadoren. (13.10.2024)
Die “Wunderkammer”-Serie der KunstArztPraxis:
In Wunderkammern 1: Helmut Kunkel, Aschaffenburg
In Wunderkammern 2: Eduard Roijen, Düsseldorf
In Wunderkammern 3: Rosa Haus, Hombroich
Und, weil es ja auch einmal eine Wunderkammer war:
Im Märchenreich: Zu Gast bei Mary Bauermeister
Mary Bauermeister: Abschied vom Märchenreich
Wie wunderbar, immer wieder wunderbar. Der Blick in Welten, die berühren, die inspirieren, sich präsentieren und entziehen. Danke für die tolle Arbeit, diese Welten zu finden und festzuhalten. Immer mit großem Respekt und feinem Blick. Jedesmal ein Genuss.
Antwort KunstArztPraxis: Tausend Dank, Herr Brix! Solche Kommentare sind Motivation weiterzumachen. Ihre KunstArztPraxis