Korrekt performen: Marina Abramović zum 75.
Am 30. November 2021 wurde Marina Abramović 75 Jahre. Ihr verdanken wir das wohl verstörendste Erlebnis unserer bisherigen KunstArztPraxis: eine Performance, die gar keine war. Ein Anlass, einmal grundsätzlich über den Charakter echter und falscher Abramović-Performances nachzudenken.
Wir Drei von der KunstArztPraxis sind oft allein im Museum. Nicht nur während diverser Corona-Lockdowns, sondern so generell. Wir haben nämlich das fabelhafte Privileg, in Ausstellungen gehen zu dürfen, die noch gar nicht eröffnet sind. Und da sind dann oft allenfalls ein paar Künstler*innen oder Kurator*innen oder Haustechniker da.
Bei Marina Abramovićs „The Cleaner“ in der Bonner Bundeskunsthalle war das 2018 aber grundlegend anders.
Da waren wir zum Fotoshooting mit Abramović verabredet (wir berichteten), aber die Künstlerin war noch nicht anwesend. Stattdessen füllten gefühlt 50 junge Menschen den Raum.
Das war ungewöhnlich, aber noch kein Grund, um nervös zu werden. Auch das Aufblitzen einer Handvoll behaarter Beine unter weißen Laborkitteln brachte uns noch nicht ins Schwitzen.
Unruhig wurden wir erst, als besagte junge Menschen plötzlich wie auf Kommando begannen, sich vor unseren Augen auszuziehen.
Allein unter Nackten
Nicht, dass wir uns falsch verstehen: Es war nicht so wie auf der Bühne in der Striptease-Bar. Es war eher so wie in der Umkleidekabine des örtlichen Schwimmbads. Nur, dass wir eben nicht im Schwimmbad waren, sondern im Museum. Und dass am Ende weder Bikini-Oberteile noch Badehosen am Körper blieben.
Ehe wir uns versahen, waren wir allein unter Nackten – ein Zustand, der uns bis dahin im Museum so auch noch nicht untergekommen war.
In der Folge gruppierten sich raumfüllend nackte Zweiergruppen und schauten einander unverwandt in die Augen. Nackte standen sich in schmalen Nischen gegenüber, Nackte saßen auf den Knien am Museumsboden, Nackte besetzten hölzerne Bistro-Stühle, Nackte hingen mit gespreizten Armen und gespreizten Beinen im gleißenden Scheinwerferlicht auf Fahrradsätteln an der Wand.
Kraftvoll und transformierend
Das alles geschah derart überraschend, spontan und mit einer für uns nonchalant provokanten choreographischen Logik, dass wir kurz die Contenance verloren: Wir zogen wenn schon nicht physisch, so doch mental blank.
Es war das mit Abstand verstörendste Ereignis unserer bisherigen KunstArztPraxis. Mit anderen Worten: Genau so hatten wir uns immer die perfekte Performance vorgestellt. Unerwartet, kraftvoll und transformierend, auf die eine oder andere Weise.
Nur, dass es eben gar keine Performance war.
Wie wir später erfuhren, waren die jungen Menschen in der Bundeskunsthalle zusammengekommen, um etwas zu proben, was Abramović „Re-Performance“ nennt: Wiederaufführungen ihrer berühmten Aktionen, die diese nacherlebbar – und vielleicht auch kommerzialisierbar? – machen sollen.
In dem von uns erwischten Augenblick der Probe ging es offenbar erst einmal darum, Nacktheit und Blicke auszuhalten.
Auf dem Damenfahrradsattel
Während der Laufzeit von „The Cleaner“ konnte man sich später dienstags bis sonntags von 11 bis 19 Uhr zwischen zwei Nischennackten hindurchzwängen wie 1977 zwischen Abramović und Ulay in „Imponderabilia“ – oder anderen sonntags zwischen 13 bis 15 Uhr beim Kopfhautblutigkämmen zusehen wie Abramović 1975 in „Art must be beautiful, artist must be beautiful“.
Am Eröffnungswochenende und während dreier Mittwochabende war zudem der Damenfahrradsattel nackt besetzt.
Auch wir haben uns zwischen Abramović-Ulay-Doublen durchgezwängt. Wir sahen einer jungen Dame beim re-inszenierten Sattelschweben zu und einem jungen Mann beim nachgespielten Haarekämmen.
Wir haben wohl auch nackte Haut touchiert, aber wahrscheinlich keinen Tropfen Blut gesehen.
Ruhe ja, Wallung nein
Beim Reiskorn-Sortieren nach der Abramović-Methode kamen wir in der Bundeskunsthalle tatsächlich wie gewünscht etwas zur Ruhe, bei den Re-Performances hingegen nicht ansatzweise in Wallung. Übergesprungen ist der Funke nicht.
Und wir glauben auch zu wissen warum.
Wir glauben nämlich, dass eine echte Abramović-Performance nur von Abramović ausgeführt werden kann. In unseren Augen sind ihre kathartischen Rituale nicht übertragbar. Sie sind biografisch gewachsen, ans Urheberrecht und die Urheberpflicht gebunden. Und sie sind für den Moment, in dem sie einst entstanden.
Es ist Abramovićs Schmerz, der durch ihre Performances durchscheint. Es ist ihre Angst vor Leid, vor Tod, vor Scham. Es sind die Dämonen ihres gefühlskalt gewalttätigen Elternhauses, die mit jeder Aktion natürlich nur aus ihrem Körper ausgetrieben, herausgepeitscht, herausgeschnitten, herausgekämmt werden können.
Das Schweigen Marina Abramovićs wird unterbewertet
Es ist Abramovićs Erfahrung von Titos Totalitarismus, aus dem sich die 1946 in Belgrad geborene Künstlerin durch die totale Freiheit des Willens und der Selbstbeherrschung zeit ihres Lebens zu lösen suchte. Und es ist ihr Bewusstseinszustand, der sich im Idealfall in gewünschter Weise auf das Publikum überträgt.
Vielleicht muss man sogar über Jahrzehnte unter Aborigines, Schamanen und Mönchen in Australien, Brasilien und Tibet gelebt haben, um so sitzen oder schweigen zu können wie Marina Abramović. Um ausgerechnet meditierend sein Leben zu riskieren. Oder derart telepathisch mit dem Publikum verbunden zu sein.
Alles andere ist nicht Performance, sondern Theater. Also im besten Fall nicht Abramović, sondern Robert Wilson. So irgendwie.
Abramovićs stärkste, provokanteste, poetischste Performances sind ohnehin nicht wiederholbar, wohl nicht einmal von ihr selbst. Mit der Erfahrung von „Rhythm 0“ 1974 in der Galerie Morro in Neapel im Nacken kann niemand mehr dem Publikum sechs Stunden lang gestatten, ihn je nach Gusto zu füttern, zu schmücken, mit Rasierklingen zu ritzen oder mit dem Revolver zu erschießen.
Nicht auf Null zurückzudrehen
„Rhythm 0“ hat das Publikum nämlich für immer verändert. Sehend gemacht. Vielleicht menschlicher werden lassen. Zumindest aber vorsichtiger, kontrollierter. Dieser Transformationsprozess ist nicht auf Null zurückzudrehen. Inzwischen weiß man ja, was einen so erwartet.
Und kein Paar wird sich jemals wieder auch nur annähernd so anrührend auf der Chinesischen Mauer entgegengehen können, wie Abramović und Ulay dies 1988 in „The Lovers – The Great Wall Walk“ gelang. Die ganze große, ganz und gar einmalige Liebes- und Trennungsgeschichte der beiden Künstler ging in den 90 Tagen damals ja auf allen 4.000 Kilometern mit.
Es gibt Fotos. Es gibt Filme. Es gibt Geschichten
Deshalb halten wir Abramovićs Re-Performances für überschätzt. Wir halten uns lieber an die starken Bilder, mit denen sich die Originale in uns eingebrannt haben. Und an das, was sie uns über den Menschen, über seine niederen Instinkte und seine großen Gefühle, über Gewalt und Schmerz, die Liebe und den Tod erzählen.
Da brauchen wir keinen Performance-Aufguss. Es gibt ja Fotos. Es gibt Filme. Und es gibt Geschichten.
Vor kurzem haben wir versucht, unsere Haltung jenem toten Hasen zu erklären, dem Joseph Beuys 1965 seine Bilder erklärt hat. SEIN starkes Bild von damals jedenfalls ist immer noch unauslöschbar drin in unseren Köpfen, auch nach 56 Jahren – allen Löschungsversuchen der Unsichtbarkeits-Maschine zum Trotz.
Dass Abramović Beuys‘ Hasenperformance 2005 im New Yorker Guggenheim interpretatorisch re-performt hat, haben wir hingegen schon fast wieder vergessen. Dazu existiert kein Film in unseren Köpfen.
Zu einer unserer liebsten Performances ever – „The Artist is Present“ 2010 im New Yorker MoMa – gibt es sogar einen realen Film. Und der macht Abramovićs unglaubliche, bis zur Totalerschöpfung sich verausgabende Präsenz während der 736 Stunden oder drei Monate Langzeitperformance auf ergreifende Weise erfahrbar – ebenso wie die nur durch Schweigen und Blicken im jeweiligen Gegenüber ausgelösten Emotionen.
Natürlich wäre es ergreifender gewesen, 2010 mit dabei zu sein. Wir bedauern unsere Abwesenheit damals sehr. Aber einer Schauspielerin im roten Abramović-Kleid gegenübersitzen wollen wir trotzdem nicht.
Den Film schauen wir uns heute Abend zur Feier von Abramovićs 75. Geburtstags noch einmal an. Und an Ulay, der ja heute auch Geburtstag hat und 2020 in Ljubljana starb, denken wir dabei auch. (30.11.2021)
Anmerkung 1: Von Abramovićs „The Cleaner“ 2018 in der Bonner Bundeskunsthalle haben wir viele Fotos gemacht, die wir hier gern gezeigt hätten. Es war nämlich eine großartige Retrospektive. Aber auch hier sagt die Unsichtbarkeits-Maschine Pustekuchen.
Anmerkung 2: Eines der stärksten Bilder, die wir aus der Kunstgeschichte kennen, ist das von „Rest Energy“ (1980): Abramović und Ulay stehen sich im Film gegenüber, sie hält einen Bogen, er spannt die Sehne mit dem Pfeil. Und der zielt auf ihr Herz. Liebe und Tod, Gefahr und restloses Vertrauen bedingen sich. Und zwar in einer so unerträglich spannenden Weise, die uns heute noch den Schauer über den Rücken laufen lässt, wenn wir nur daran denken.
KunstArztPraxis-Fotoshooting: Being Marina Abramović
„The Cleaner“ in der Bundeskunsthalle Bonn
Sehr gut geschrieben
That’s the point! nicht nur bei Abramovic, auch bei Pina Bausch und Beuys.
KAP: Die KunstArztPraxis dankt und freut sich!
Das sehe ich ganz genauso. Ich habe 2018 in Bonn an dem Artist Talk mit Marina Abramovic teilgenommen und sie gefragt, ob es für die Performance nicht entscheidend ist, wer sie ausführt. Sie hat das verneint, aber ich fand ihre Antwort nicht überzeugend. Und ich glaube, dass sie das auch nicht wirklich glaubt.