In Brüchen denken: „Martin Noël – Otto Freundlich“
Acht Jahre lang setzte sich Martin Noël intensiv mit dem abstrakten Werk Otto Freundlichs (1878-1943) auseinander – und entwickelte daraus eine komplett eigenständige Bildsprache von unglaublicher Harmonie. Zu sehen in der Villa Zanders in Bergisch Gladbach: in einer ganz besonders gelungenen Schau.
1998 wandert Martin Noël auf der Suche nach Linien durch New York. Fündig wird er auf dem Platz des World Trade Center, wo die Explosion eine Autobombe in der Tiefgarage des Nordturms fünf Jahre zuvor die Bodenplatten aus Beton zerrissen hat wie Papier.
Es sind die letzten leisen, kurze Zeit später schon getilgten Spuren des islamistischen Terrors.
Fünf Tage lang kommt Noël immer wieder an den Fundort zurück, um das Netz aus Rissen auf mehrere auf Bodenplattenmaß zurechtgeschnittene Transparentpapiere abzupausen: Die zunächst misstrauischen Polizisten lassen den schrulligen Deutschen schließlich gewähren.
So entstehen 72 großformatige Zeichnungen, die „New York Lines“: Ausgangspunkt für Noëls „New York Drawing Objects“, aber auch für zahlreiche Linolschnitte und ein Künstlerbuch.
Schöner kann man etwas sehr Konkretes, Unscheinbares, mit Geschichte aufgeladenes Urbanes eigentlich gar nicht in vermeintlich pure Abstraktion, in große Kunst verwandeln. Zumindest empfinden wir das so.
(Bild: Martin Noël, „New York Lines“, Linolschnitt auf Papier, 1999-2004)
Noëls „New York Lines“ finden wir großartig, aber schon ihre Entstehungsgeschichte hat das Zeug zur Fluxus-Performance. Martin Noëls Witwe hat uns davon erzählt, als wir in der Ausstellung „Martin Noël – Otto Freundlich. Die Entdeckung der Moderne“ in der Villa Zanders vor drei ganz ähnlich angelegten Linolschnitten mit urbanen Linien standen.
Seitdem erscheinen uns die zersprengte New Yorker Bodenplatte sinnbildlich zu sein für Martin Noëls gesamtes Werk.
Denn: Wenn eine Bodenplatte bricht, entsteht im Bruch ja nicht nur eine Linie, die man im Stadtraum wiederfinden kann.
Es entstehen auch mindestens zwei Flächen, die diesseits und jenseits der Liniengrenze zueinander in neue Beziehung treten – und, je nachdem, auch unterschiedliche Höhen-Niveaus einnehmen können.
Das sind KEINE platten Bilder!
Auch letzteres scheint uns bei Martin Noël ein wichtiger Aspekt zu sein. Denn: Martin Noëls Arbeiten sind ja keine platten Bilder: Sie sind erhabene Objekte.
Nur das es eben keine durch Gewalt zerstörten Bodenplatten aus Beton sind, sondern künstlerisch sanft & sensibel aus der vorgefundenen Dekomposition heraus komponierte Holzplatten für die Wand. So reimt sich das in unseren Augen bei Martin Noël zusammen.
An dieser Stelle ist es endlich an der Zeit, das Geheimnis zu lüften: Jene drei Werke, vor denen wir standen, als uns Martin Noëls Witwe von der Entstehung der „New York Lines“ erzählte, waren Linolschnitte der Serie „Pontoise“.
Die Vorlagen ihrer Linien hat der Künstler also in der Gemeinde gleichen Namens bei Paris gefunden, wo er im Musée Tavet-Delacour, wie wir vermuten, die Werke Otto Freundlichs studiert hat.
Vom Werk des immer noch viel zu unbekannten Wegbereiters der Moderne war Martin Noël nämlich derart begeistert, dass er vom Jahr 2002 an bis zu seinem frühen Tod 2010 in Bonn rund 200, bisweilen „Otto“ betitelte Arbeiten schuf, die sich ausdrücklich auf das Werk dieses frühen Vertreters der geometrischen Abstraktion beziehen.
Keine Kopie des Originals, sondern eine ganz eigenwillige Auseinandersetzung mit einem Vorbild, die etwas staunenswert Eigenständiges ist.
Neben einigen Gemälden Otto Freundlichs, die von Restaurator*innen nicht mehr gerne zum Transport freigegeben werden, sind von diesen „Ottos“ in Bergisch Gladbach 73 Werke von Martin Noël versammelt.
Sie basieren auf Linien, die Noël zwischen Freundlichs Farben gefunden, für seine Zwecke ausschnitthaft vergrößert und auf dem mit dem Stechbeitel vertieften Birkenholz zwischen zwei erhaben gelassenen Flächen nachgezogen hat.
Mit bloßer Hand natürlich: Lineale waren bei Otto Freundlich wie bei Martin Noël verpöhnt.
(Bild: Otto Freundlich, „Komposition“, 1930, Villa Zanders, Bergisch Gladbach 2024)
Anschließend hat Noël für diese horizontalen oder vertikalen Erhebungen, die bündig am Rand beginnen oder enden, Farben gesucht – und in einem komplexen Akt der Übermalung schließlich auch gefunden.
Diese changierende Farbe, von der wir nur die Oberfläche sehen, ist aus übereinander geschichteten Farbflächen entstanden, die den Linienduktus des Pinsels, der Walze, des Spachtels teils noch erkennbar lassen. Im Grunde noch so eine Platte.
In der Abstraktion konkreter machen
Wir würden sagen, dass Noël die im Bild verborgene unscheinbare Linie Freundlichs gerade dadurch, dass er sie in der Vergrößerung noch weiter abstrahiert, sehr konkret, sehr präsent, ja: sehr gegenständlich werden lässt.
Und das ist in unseren Augen eine ebenso paradoxe wie richtig tolle Sache.
Wir können uns nicht helfen, aber wir finden diesen leisen Dialog zwischen Linie & Farbe, erhabener Fläche im Zusammenspiel mit dem Untergrund des Birkenholzes samt all seinen vorgefundenen Maserungen, Astlöchern oder kleinen Rissen absolut stimmig.
Und zwar bei fast allen von Martin Noëls in Bergisch Gladbach gezeigten Bildern.
Nur eines aus der Serie „Pantoise“ mögen wir nicht wirklich. Das wirkt in unseren Augen, verglichen mit der Leichtigkeit der anderen, grob.
(Bild: Martin Noël, „Weinkiste_Otto Freundlich“ von 2002, Kunstmuseum Villa Zanders, Bergisch Gladbach 2024)
Aber auf allen anderen Arbeiten waltet eine Leichtigkeit, der wir die Mühen der Entstehung anzumerken glauben.
Für uns sind sie das jeweils letzte leise Zeugnis einer gewaltigen, mit einer Explosion vergleichbaren Anstrengung: Zeugnis eines langen, zähen Ringens eben um die richtige Farbe und die richtige Form und das richtige Verhältnis beider zueinander auf dem Untergrund.
Diese minimalistischen Strenge ist das Ergebnis ausufernder, überbordender Mühe, da sind wir uns sicher. So leicht kann in der Kunst nur etwas wirken, was vorher schweißtreibend war – vor allem auch im Kopf.
Vielleicht könnte man das, was Martin Noël geschaffen hat, sogar in eine künstlerisch-mathematische Bruch-Formel pressen:
Fläche1 x Farbwert1 : Fläche2 x Farbwert2 = 0 ???
Für uns jedenfalls entstand in der Anschauung der Eindruck perfekter ganzheitlicher Harmonie von sich in ihrer Gesamtheit unterm handgezogenen Strich nivellierenden Teilen.
Vom Glück des Evidenten
Egal. So oder so: Es muss für Martin Noël jedes Mal aufs Neue beglückend gewesen sein, wieder einmal etwas so Schönes, Verletzlich-Zartes, Farb- und Formvollendetes, eben: Evidentes zustandegebracht zu haben.
(Bild: Martin Noël, „Palette_groß“, 2010), Kunstmuseum Villa Zanders, Bergisch Gladbach 2024)
Die Spuren dieser Linien, dieser Flächen & Farben, dieses Denken in Brüchen jedenfalls wird aus unseren drei Hirnen kaum mehr zu tilgen sein. Seit wir Martin Noëls erhabene Objekte gesehen haben, blicken wir nämlich ganz anders auf den Boden unserer zerrissenen Welt. (21.04.2024)
„Martin Noël – Otto Freundlich. Die Entdeckung der Moderne“ ist noch bis zum 25. August 2024 im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach zu sehen.
Die Schau ist die letzte Ausstellung von Museumsdirektorin Petra Oelschlaegel, der wir das Vorwort zu unserem Mary-Bauermeister-Buch verdanken (Danke nochmal, Petra Oelschlaegel!). Und sie (also: die Schau) ist eine große Entdeckung, Platte für Platte. Ach ja: eine ganz eigene Auseinandersetzung Martin Noëls mit dem Farbenspiel Otto Freundlichs gibt es auch (siehe Fotos unten).
Appendix: Die Politik der Farben – und die Fratze des Antisemitismus
Vor Kurzem haben wir in Bezug auf Hilma af Klint darauf hingewiesen, dass die heute ach so einhellig als „Pionierin der Abstraktion“ gefeierte Mystikerin auf ihren Bildern etwas in ihren Augen sehr Gegenständliches dargestellt hat, auch wenn wir das inzwischen nicht mehr sehen können – und eine Neudefinition dessen angemahnt, was man gemeinhin „rein abstrakte Kunst“ zu nennen pflegt.
Auch bei Otto Freundlich – wie bei Martin Noël – scheint uns das, aus allerdings anderen Gründen, angebracht. Weil wir oben aber schon so viel über Martin Noël – und so wenig über Otto Freundlich – geschrieben haben, wollen wir uns hier auf den frühen abstrakten Maler konzentrieren. Auf seine Politik der Farben. Und deren Aktualität.
Otto Freundlich hat selbst seine abstraktesten Kompositionen nämlich als Teil eines „kosmischen Kommunismus“ verstanden, in dem die Teile gleichberechtigt im Ganzen agieren: als utopisches Bild einer ersehnten freien Gesellschaft. Die „offene Gemeinschaft“ des Bunten war ihm ein Sinnbild für die offene Gemeinschaft aller Menschen.
Dasselbe gilt für Freundlichs Skulpturen – zum Beispiel für den „Aufstieg“ (1921), dessen späteren Abguss am Maria-Euthymia-Platz in Münster wir schon als Studenten großartig & bewundernswert & merkwürdig zeitlos fanden: Der „Aufstieg“ strebt im öffentlichen Raum ganz klar zur Freiheit im Humanen hin.
Wir möchten aus gegebenem Anlass auch darauf verweisen, dass diese fröhliche, bunte, philanthropische, konkret politische Kunstauffassung Otto Freundlichs den humorlosen, engstirnigen, menschenverachtenden, monochrom-braunen Nazis ein Dorn im Auge war: Sie nutzten Freundlichs – vermutlich von ihnen später zerstörte – Gips-Plastik „Großer Kopf“ (1912) deshalb als Cover-Girl ihrer diffamierenden Broschüre über „Entartete Kunst“. Freundlichs Gemälde und Skulpturen wurden 1937 aus den Museen entfernt und ebenfalls zum Teil von den Nazis zerstört.
„Jud Freundlich“ (O-Ton Nazis) war halt Jude, und wurde aus diesem Grund nach seiner Denunziation durch einen „aufrechten Deutschen“ 1943 von den Nazis bestialisch ermordet. Ob im Vernichtungslager Lublin-Majdanek oder im Vernichtungslager Sobibor ist nicht bekannt. Bei der Dokumentation des Ermordungs-Orts hat die ansonsten beamtenhaft pedantische Hinrichtungs-Maschinerie des neidischen Aquarellisten aus Braunau offenbar kläglich versagt.
Irgendwie durchgerutscht. Logisch: bei dieser rein industriellen Geschwindigkeit des Mordens.
Auf der Broschüre der Nazis ist der manipulativ als „Neuer Mensch“ titulierte „Große Kopf“ Freundlichs jedenfalls unvorteilhaft ausgeleuchtet und derart miserabel fotografiert, dass er als „jüdisches Machwerk“ (O-Ton Nazis) im Kontext der Hetz-Propaganda wie eine Fratze erscheint – also wie eine im „Stürmer“ publizierte Karikatur des verschlagenen Juden.
Dabei waren viele der wahrhaft großen Köpfe Deutschlands, auch daran sei erinnert, damals eben Juden. Und die eigentlichen Fratzen, das waren die diffamierenden, Kunst & Wissenschaft, also Kreativität & Erkenntnis genauso sehr wie den Menschen verachtenden monochrom-braunen Nazis.
So wie die Fratzen heute, neben den neuen menschenverachtenden Nazis, auch jene sich als „links“, „alternativ“ und „gebildet“ verstehender Kreise sind, die ausgerechnet (!) nach den sadistischen, frauenverachtenden, anti-westlichen und natürlich vor allem auch religiös motivierten, also antisemitischen – und, doch doch: von einem Gutteil der Palästinenser im Gazastreifen spontan enthusiastisch bejubelten – islamistischen Terrorangriffen der Hamas vom 7. Oktober 2023 mit kreischend skandierten Hetz-Parolen auch in Deutschland aus offenbar noch fruchtbaren Schößen krochen.
Um sich, nein: nicht mit den bedauernswerten Opfern zu solidarisieren, sondern: um sich komplett unempathisch mit den verachtenswerten Mördern gemein zu machen. Und zwar viel schneller, als Israels Armee hätte reagieren können.
Die Plakate der Hamas-Geiseln von den Wänden rissen, weil Juden eben keinerlei Mitleid verdienen; die Boykott-Apps mit den Namen jüdischer Firmen teilten, damit Deutsche bloß nicht aus purer Unwissenheit wie vor 33 bei Juden kaufen mussten; die jüdische Männer verprügelten und jüdischen Student*innen gewaltsam den Zugang zu deutschen Universitäten verwehrten. Als hätte nicht gerade die Wissenschaft hierzulande – wie ja auch die Kunst – den großen intellektuellen & kreativen Köpfen jüdischen Glaubens durch die JAHRHUNDERTE! so viel zu verdanken.
Keine Ahnung, ob das stimmt, aber wir haben vor zwei Wochen mit einem Kölner Künstler gesprochen, der sagte, in jüngeren Szenekreisen sei diese hässliche Fratze des Antisemitismus inzwischen auch eher so monochrom-braun en vogue.
Wo doch immer so gern von Kontextualisierung geredet wird, wenn es darum geht, die in unseren Augen mit nichts, aber auch mit absolut GAR NICHTS zu rechtfertigenden bestialischen Terrortaten der Hamas zu relativieren („Selber schuld, die Juden“?) :
Gerade im Kreis der Kreativen wäre in diesem Rahmen eine etwas andere Kontextualisierung, wie wir finden, durchaus angebracht. Gerade aus linker, alternativer, demokratisch gebildeter und, ja: auch aus echter, statt aus geheuchelter feministischer Perspektive.
Auch Otto Freundlichs Schicksal sollte man sich also beim Besuch der Ausstellung im Kunstmuseum Villa Zanders ins Gedächtnis rufen: und die politische Dimension seiner fröhlichen, offenen, Alle gleichermaßen mit einbeziehenden Gemeinschaft der Farben. Unsere brüchige Gegenwart hat diese Schau jedenfalls gerade sehr aktuell gemacht.
So viel an dieser Stelle zur Abstraktion.
Anmerkung: Ja: Benjamin Netanjahu ist ein Verbrecher (deshalb wurde gegen ihn in Israel, wo das eben wegen demokratischer Prinzipien möglich ist, ja auch schon mehrfach demonstriert), die radikalen jüdischen Siedler sollen sich zum Teufel scheren. Das Leid der unschuldigen Palästinenser ist entsetzlich (nicht allein übrigens wegen der Rücksichtslosigkeit der israelischen Armee, sondern auch wegen der Hamas, die diese unschuldigen Palästinenser aus Kalkül, damit der Juden-Hass sich mehre, als menschliche Schutzschilde missbraucht & ihre Waffen bewusst in Krankenhäusern, Schulen und Flüchtlingszelten lagert, und wegen der muslimischen Nachbarstaaten, die sich weigern, diese unschuldigen Palästinenser fliehen zu lassen (warum eigentlich?)).
Und: Eine Zweistaatenlösung (die die Hamas, die ja nach von Allen jederzeit sichtbarer eigener Aussage alle Juden ausnahmslos im Genozid vernichten möchte, allerdings nicht wünscht) wäre wohl das Beste. Dies anzuerkennen, auf eine Einhaltung des Völkerrechts zu pochen UND die Fratze des Antisemitismus zu kritisieren ist kein Widerspruch.
Bitteschön Dankeschön. Ihre KunstArztPraxis.
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Die Villa Zanders in der KunstArztPraxis:
33 Malantworten: Rolf Rose in der Villa Zanders
Schönheits-OPs (3): Kunstmuseum Villa Zanders
Mechtild Frisch: Aufschein im Verschwinden (leider Opfer der Unsichtbarkeit-Maschine)
“Bibliomania” in Bergisch Gladbach: Buch als Körper (leider Opfer der Unsichtbarkeit-Maschine)
Katharina Hinsberg: Making-of “Linie im Raum” (leider Opfer der Unsichtbarkeit-Maschine)
Intuition statt Kochbuch. Ein Editionsgedicht
Hede Bühl: Mit Strichen modellieren (leider Opfer der Unsichtbarkeit-Maschine)
Für eine Neudefinition „rein abstrakter Kunst“:
Höhere Wesen befahlen: Séance mit Hilma af Klint
Vom Teppich-Menschen: Nevin Aladağ in Brühl
Letzte Überlegung: Es klingt vielleicht paradox, aber im Grunde setzt der vertiefte Bruch als Linie die Bodenplatte des Untergrunds aus künstlerischer Sicht wieder neu zusammen. Das ist in etwa das, was wir oben als Komposition aus der Dekomposition bezeichnet haben. Vielleicht ist das auch der Grund, warum Martin Noël bei manchen seiner in Bergisch Gladbach ausgestellten Werke den „Bruch“ der Linie seiner Werke mit weißer Spachtelmasse wieder gekittet hat? Nur so als letzte Überlegung.
Danke für die klaren Worte!
Danke für die vielschichtigen Perspektiven
Chapeau!