Vom Teppich-Menschen: Nevin Aladağ in Brühl
Nevin Aladağ ist eine der renommiertesten Künstlerinnen der Gegenwart. Jetzt widmet ihr das Max Ernst Museum in Brühl eine imposante Schau. Was auf den ersten Blick sehr ästhetisch daherkommt, hat doch eine dezidiert soziale Komponente. Und ist sehr bildhauerisch gedacht. Auch beim Teppich.
Wir sind uns nicht sicher, aber wir glauben, dass sich das Wesen der Menschen über die Fußböden ihrer Wohnungen charakterisieren lässt. Für uns hängt das genauso zusammen wie bei den alten Griechen das Temperament mit den Säften.
Für uns ist der Fliesen-Mensch eher der kalte Hygieniker, der auch das Wohnzimmer jederzeit mit dem Dampfstrahler durchkärchern können möchte. Und der Parkett-Mensch ist der sachliche Romantiker, der bei aller Ratio des Denkens mit seinen Filzpantoffeln durch die Waldeinsamkeit seiner Zimmer schlurfen will wie durch ein Schloss.
Und der Teppich-Mensch?
Der Teppich-Mensch ist der warmherzig-seelenweiche Haptiker, der daheim barfuß über diverse textile Flächen zu schreiten wünscht wie über unterschiedlich abgemähte, unterschiedlich federnde Wiesen. Mit Sinn für Form und Farbe, fürs Ornamentale, für Kultur, Geschichte. Mit Gespür für Texturen, für Wolle, Seide, die sichtbare, fühlbare Schönheit des Materials. Und im Idealfall mit großem Respekt vor der hohen Handwerks-Kunst des Knüpfens.
Nevin Aladağ ist auch ein Teppich-Mensch – und zwar, obwohl sie nach eigener Aussage kein einziges Exemplar in ihrer Berliner Wohnung hat!
Aber sie besitzt ein eigenes Teppich-Atelier, das vor gut gestapelten, in über 15 Jahren gesammelten Kelims aus dem Balkan, dem Iran oder dem Kaukasus, vor industriell gefertigtem Sisal, Velours und Tretford, vor billig produzierter Auslegeware nur so überquillt.
Jeder Teppich wird von Aladağ komplett in Kunst recycelt, die Knüpfer waren mit der Neuverwertung einverstanden. Das zu betonen ist Nevin Aladağ wichtig.
Ausgangspunkt dieser Teppich-Leidenschaft war eine Performance mit Berliner Schuler*innen, für die Aladağ 2010 den Plastik-Mantel von Basketbällen mit einer zweiten Haut aus textilem Bodenbelag überzog.
Sie habe sehen wollen, ob man auf diese Weise auch Mädchen zum Ballspiel animieren könne, sagt die Künstlerin: Alle ihre Werke haben ja auch eine gesellschaftliche Komponente.
Wie auch die umhäkelten Gymnastikbälle, die Jeder als mobile Sitzgelegenheiten durch die Ausstellung rollen kann. Warum nicht einfach mal vor einem Werk im Halbkreis zusammensetzen und über ein Kunstwerk diskutieren?
(Bild: Nevin Aladağ, “Pattern Kinship Cloud, luminous”, 2023, mit umhäkeltem Sitzball)
Selbst die Ornamentik von Aladağs Wandarbeiten ist nicht so abstrakt, wie es erscheint: Bei aller Schönheit zielt ihre Ästhetik nicht aufs interesselose Wohlgefallen.
Auch diese Teppich-Kunst ist zutiefst sozial, lässt sich auf anderer Ebene trotzdem so lesen. Es geht um Farb- und Formfamilien, um kulturelle, geschlechtliche oder religiöse Identität, mit “demokratischer” Gleichberechtigung der durch Kurven aus schwarzem Messe-Teppich abgetreten Teppich-Teile.
Jedes Collage-Element könnte woanders weitergehen – man darf als Betrachter frei Bezüge schaffen, zwischen den Mustern individuelle Muster suchen, auch über Provenienzen der Einzelteile spekulieren. Und trotzdem ist das alles, wie auch das “Teppichballspiel”, sehr künstlerisch, sehr dreidimensional gedacht.
Vor kurzem war Aladağs “Teppichballspiel” auf dem Dach der Bundeskunsthalle installiert, jetzt ist es im Innenraum des Max Ernst Museums in Brühl angekommen, und da begreift man förmlich, was Aladağ sich plastisch bei ihrem Eingriff gedacht hat.
Zum einen verleiht der Ball dem an sich platten Teppich neues Volumen. Zum andern unterwandert der Teppich die normierte Sprungkraft des Balls, seine immanente Bewegung, macht das industriell gefertigte Produkt zum sehr sympathischen, viel hübscheren Individuum mit funktionalem Handicap. Und der durch Regeln schablonierte Mannschaftssport bekommt eine andere Form: eine anarchisch-humoristische, zum freieren Spiel animierende Brisanz.
Kalte Fliesen-Menschen mögen über derlei Unsinn abfällig die Köpfe schütteln. Aber für warmherzig-seelenweiche Haptiker ist das eine einleuchtende Sache.
So geht es in “Interlocking” immer ums soziale und künstlerische Ineinandergreifen: ein Ineinandergreifen, bei dem man sich sogar beim Betrachten spielerisch die Bälle zuspielen kann. Auch bei jenem Werk, das Aladağ speziell für Brühl geschaffen hat.
Da kann man das Dreidimensionale des eigentlich Flächigen besonders gut sehen, und die – formal trotzdem ineinandergreifenden, nicht gänzlich isolierten – Farbfamilien auch.
So schließt sich der textile Kreis.
(Bild: 2023 für die Ausstellung in Brühl entstandene Wandarbeit “Social Fabric, Floating Leaves” von Nevin Aladağ)
Unser erstes Kunstwerk von Nevin Aladağ haben wir bewusst leider erst 2022 im Marta Herford wahrgenommen: Es war ein fliegender Teppich.
In der Ausstellung “Perspektiven einer Sammlung” schwebte dieser 30 imposante Meter lange “Läufer” (2016), dessen eingezwängtes Body-Double wir Monate später im Marta-Depot besuchen durften, im Hohen Dom des Museums als Objekt vom platten Boden frei zu den Sternen.
Später sahen wir Aladağs raumgreifend verwobene, unglaublich präsente Collage-Reliefs in “Menschheitsdämmerung” im Kunstmuseum Bonn und noch später im Düsseldorfer K20. Aber das hier in Brühl, das hat, als Überblicksschau, in dieser Fülle, eine neue, staunenswerte Qualität. Weil hier, wie beim Teppich-Menschen üblich, so vieles so stark miteinander verwoben ist.
Natürlich gibt es in “Interlocking” noch ganz viel anderes zu sehen (und zu hören) als Teppich-Kunst. Nevin Aladağs Musikinstrumente zum Beispiel, die sonntags sogar gespielt werden. Ihre Nylonstrumpf-Lampen, die Stiletto-Reliefs aus Kupfer-Platten. Oder wie die Künstlerin ganze Städte – wieder sehr bildhauerisch, mit dynamischer Geste – unterschiedlich zum Klingen bringt.
Das alles zeigen wir ein andermal, versprochen! Hier waren wir jetzt erstmal ausschließlich am Teppich-Menschen interessiert. (07.04.2024)
“Nevin Aladağ. Interlocking” ist noch bis zum 30. Juni 2024 im Max Ernst Museum in Brühl zu sehen.
Anmerkung 1: Nur so am Rande: Bei Nevin Aladağs Berliner Wohnung tippen wir auf Dielen.
Anmerkung 2: Wir haben Fliesen.
Das Max Ernst Museum in der KunstArztPraxis:
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