Ein gut bestelltes Haus? Rodney McMillian im Marta
Wir wissen nicht viel von Rodney McMillian – eigentlich so gut wie nichts. Also können wir uns seiner Schau “The Land: Not Without a Politic” ganz unbefangen nähern. Und wagen ein literarisches Experiment: indem wir die Ausstellung lesen wie ein Haus, dass man zum ersten Mal betritt.
Vor kurzen haben wir darüber berichtet, dass wir Drei von der KunstArztPraxis erstaunlich ähnliche Ritualen fröhnen. Dazu gehört unbedingt, dass wir zunächst in die Bücherregale und auf die Kunst an den Wänden schauen, wenn wir das Haus von neuen Freunden oder entfernten Bekannten zum ersten Mal betreten.
Da lässt sich psychologisch zumeist schon sehr viel erfahren. Auch für den Smalltalk.
Für uns ist auch Rodney McMillian so eine Art entfernter Bekannter. Wir wissen nämlich nicht viel von ihm – außer vielleicht, dass er in Los Angeles lebt, eine Professur für Bildhauerei bekleidet, in seinem Werk Produkte der amerikanischen Konsumkultur recycelt und sich sozialkritisch mit dem Leben in den USA auseinandersetzt.
Bewusst wahrgenommen hatten wir vor Herford auch noch nichts von ihm. Kein Wunder: “The Land: Not Without a Politic” im Marta ist McMillians erste Überblicksschau in Europa.
Deshalb betrachten wir “The Land: Not Without a Politic” einfach einmal wie ein an die Museumswände auseinander gefaltetes Haus, in dem, sagen wir mal: zwei Parteien leben. Und das wir in freundlicher Erwartung mit einer Flasche Wein und einem Strauß Blumen für unsere Gastgeber im Folgenden zum ersten Mal betreten.
Wir sind schon sehr gespannt, was uns die Kunst an den Wänden und die Bücher in den Regalen und das ganze Interieur über die Bewohner*innen verraten.
Wo steht Rodney McMillians Haus?
Von Ausstellungsanfang an ist klar: Rodney McMillians Haus steht in den USA, irgendwo zwischen New York und den Südstaaten.
Die Südstaaten erkennen wir in den windschiefen Antebellum-Säulen am Horizont, New York an den Türmen, von denen zwei keifende Paviane Besitz ergriffen haben wie im “Planet der Affen” besagte Affen von der versklavten Gattung Homo.
Das müssen die berühmten Twin Tower des World Trade Center sein, auch wenn sie in Herford etwas weit auseinander stehen – und irgendwie aus der Zeit gefallen sind:
Denn sie stehen ja noch, obwohl die mit turbokapitalistischer Geschwindigkeit gescheiterte Menschheit die Krone der Schöpfung offensichtlich bereits an die Primaten abgegeben hat.
Rodney McMillian, “Untitled (baboons)”, 2006, Marta Herford, 2024
Egal. Wir wollen uns nicht von geografischen Augenwischereien aus dem Konzept bringen lassen, schließlich sind wir eingeladen! Also gehen wir die gewundene Straße weiter übers graue Feld bis zum Haus.
Dann stehen wir plötzlich vor der Fassade. Sie ist seltsam gewölbt wie die Architektur des Himmels über ihr, aber in sich auch rechtwinklig strukturiert wie die New Yorker Streets & Avenues.
Es gibt eine kleine Veranda, die uns wieder die Südstaaten ins Gedächtnis ruft: allerdings ohne den in unserer kinematographischen Erinnerung gleich mitgedachten Schaukelstuhl, in dem immer ein schon älterer Afroamerikaner schaukelt und jedem Fremden misstrauisch entgegenblickt. Ach ja: Die patriotische Flagge im Vorgarten fehlt ebenfalls.
“In diesem Haus sollen zwei Parteien wohnen?”, denken wir noch. “Es wirkt so klein!” Egal. Wir klingeln.
Erstaunlicherweise wirkt das Haus von drinnen viel größer als von draußen: einen Effekt, den wir sonst nur aus US-amerikanischen Comic-Filmen mit Mäusen oder Enten kennen. Und zum Interieur gehören dann doch noch Flaggen.
Wobei DIESE unbesternten Flaggen hier unpatriotisch deformiert aussehen. Wer jemals Jimi Hendrix 1969 in Woodstock “The Star-Spangled Banner” hat spielen hören, der weiß, wie wir das meinen.
Die Gastgeberin stellt unseren Strauß, der uns nun, wo wir ihn in der Vase sehen, schon seltsam verblüht vorkommt, in eine Vase. Der Gastgeber entkorkt den Wein.
Rodney McMillian, “Still Life with Flowers”2002/2003, Marta Herford, 2024
Und wir stürmen, wie es unsere Art ist, erstmal zum Bücherregal. Wow, SO viele Bücher!
Eigentlich haben wir uns immer für ziemlich belesen gehalten, aber die meisten dieser Titel sagen uns gar nichts. Im weitesten Sinne geht es wohl um die Geschichte Amerikas und Familien wie die Du Ponts, die diese stolze Nation aufgebaut haben. Um die Einwanderung, die hier natürlich ausschließlich aus der Sicht weißer, von Europa aus gestarteter Emigranten geschrieben ist.
Verständlich: Schließlich sind unsere Gastgeber offensichtlich weiße Amerikaner. Und intellektuell sind sie anscheinend auch. Da muss man sich schon für Ebony oder Ivory, vulgo: für Paul McCartney oder Stevie Wonder entscheiden.
Und an den Wänden?
Und an den Wänden? Was ist mit Kunst? Da werden wir leider enttäuscht! Kunst gibt es an diesen Wänden nicht. Im Wohnzimmer hängt nur zwei scheußliche Gobelins, auf denen vier Mal der Erlöser in serieller Pose kniet.
Wir kannten bisher nur das Phänomen der Bi-Lokation. Hier scheint es sich aber um eine Quattuor-Lokation zu handeln – und das auch noch, wie in Weihwasser gespiegelt, am selben Ort!
Vielleicht hat dieses Wunder seinen Ursprung in den Apokryphen? Egal. Unsere Gastgeber jedenfalls scheinen nicht nur Teppich-Menschen zu sein, sondern auch heilsgeschichtlich unterwegs.
Aber die Bettlaken im Schlafzimmer, deren Dessins an die gestische Malerei des abstrakten Expressionismus im New York der Fünfzigerjahre gemahnen, DIE zeugen von Geschmack.
Summa summarum also religiöse weiße Intellektuelle mit Hang zu Kitsch & Retro.
Hinten: Rodney McMillian, “Double Jesus”, links, und “Double Double Jesus”, beide 2006; vorne: “Chair”, 2003, Marta Herford, 2024
“Bald schmeißen wir ihn raus!”
Im Gegensatz zu Clinton Drake, dem schwarzen Untermieter: Er wohnt in einem Nebenzimmer und ist Irak-Veteran wie seine beiden Söhne, die Gastgeber sind nicht glücklich mit ihm. Er habe 1988 für den viel zu sozialen Michael Dukakis und gegen den patriotischen George Bush gestimmt, erfahren wir hinter vorgehaltenen, im Nagelstudio manikürten Händen.Er habe es seinen weißen Vermietern selbst erzählt!
SO intellektuell, dass sie für die Demokraten wären, sind unsere Gastgeber also auch wieder nicht.
Auch George Bush jr. hätte Drake gerne abgewählt, wird uns gesagt, aber er dürfe zum Glück nicht mehr wählen. Erst sei er längere Zeit im Gefängnis gewesen, nun habe er Schulden. Seine Miete könne er auch nicht zahlen. Unordentlich und dreckig sei sein Zimmer, er schlafe auf Sackleinen wie ein Baumwoll-Sklave. “We’ll throw him out soon!”
Auf diese Weise erfahren wir, dass unsere Gastgeber hier die Hausbesitzer sind. Dass sie doch ein wenig von der Historie der Sklaven wissen, die die stolze Nation ja mindestens genauso aufgebaut haben wie die hyperreichen Du Ponts. Und, wie leicht Einem, der arm ist, in den USA das Wahlrecht aberkannt werden kann. 900 US-Dollar Schulden reichen locker.
Jetzt blicken wir uns doch einmal so richtig um und sind erschrocken: Wir hatten uns unsere Gastgeber ebenfalls ordentlicher, sauberer – und irgendwie auch reicher – vorgestellt! Das passt gar nicht zu den Büchern über “Amerikas geheime Aristokratie” und über Etikette, die wir im Bücherregal gesehen haben!
Danke, wir stehen lieber!
Aber es erklärt, warum auf dem Tisch nur ein einsamer Apfel liegt wie im kargen Atelier eines Hungerkünstlers der Arte Povera.
Sogar das Haustier: der Kanari, den uns die beiden in einem Anflug von pseudo-patriotischem Fake-News-Größenwahn als Weißkopf-Seeadler verkaufen wollten, ist traurig verhungert und hängt jetzt vorm Kühlschrank am Faden, als sei er eine Trompe-l’œil-Malerei.
Nicht einmal Geld für ordentliche Möbel ist da! Auf DIESEN Sessel jedenfalls wollen wir uns nun wirklich nicht setzen. Und, no, thanks: auch nicht auf den versifften Teppichboden vis-à-vis.
Aber auf dem versifften Teppichboden finden wir tatsächlich einen Vierteldollar, den mit dem Aufdruck “Liberty” – wenn wir das auf die Entfernung (wir stehen ja!) mit unseren müden Augen richtig sehen!
ETWAS Kleingeld ist also im Haushalt noch zuhanden. Und der Glaube an Freiheit stirbt auch an diesem Ort offenbar zuletzt.
Das ganze Intellektuelle: nur Fassade?
Und dann entdecken wir im Schlafzimmer doch noch etwas Kunst an der Wand! Wir hatten sie zunächst gar nicht bemerkt, das eingebrannte, ausgebrannte Loch versperrte uns die Sicht. Wie dieses interessante Werk denn heiße, wollen wir von den Gastgebern wissen. Und was sagen die? Die sagen doch tatsächlich wie aus einem Mund: “Ikarus‘ Arsch”.
Wie tief kann man bildungsbürgerlich eigentlich sinken. Das ganze Intellektuelle: nur Fassade!
Aber es kommt noch schlimmer: Denn die Hausbesitzer scheinen ein paar Leichen im Keller zu haben – und das meinen wir nicht nur sprichwörtlich! So jedenfalls deuten wir die 18 Papp-Särge im Souterrain. Überhaupt: War da nicht schon Blut an der Haustür, als wir klingelten?
Massenmörder? Amokläufer?
Man muss ja nicht gleich an Massenmörder oder Amokläufer denken – derlei Vorverurteilungen verbieten sich selbst gegenüber den schusswaffenverknallten USA.
Aber dieses Haus steht irgendwie doch auf ethisch wackligen, nicht ganz unschuldigen, vielleicht sogar verbrecherischen Füßen. Mit einem – indianischen?* – Friedhof als Fundament.
*Nur eine Vermutung. Weil wir Spielbergs “Poltergeist” gesehen haben.
Es könnten aber auch Gräber von Irakern oder Vietnamesen sein.
Oder halt von Sklaven.
Immerhin hat man vom vergitterten Kellerfenster aus einen phantastischen Blick auf den Hauptsitz des Obersten Gerichtshofs der Vereinigten Staaten. Aber, äh: Steht dieses Hohe Haus nicht eigentlich in Washington D.C.???
Moment, da kommt uns ein Verdacht!
Moment, da kommt uns ein Verdacht! Könnte es vielleicht sein, dass Rodney McMillians Haus mit seinen zwei Parteien gar nicht in den USA steht, sondern die USA mit ihren zwei Parteien IST? Dieses seit Donald Trumps Regentschaft endgültig wie der Vorhang im Tempel zerrissene Land?
Plötzlich schießt uns ganz viel durch den Kopf: Die US-Hypothekenkrise 2007, die den amerikanischen Traum kleiner, im Grunde armer, von Großbanken verführter Hausbesitzer wegen explodierender Zinsbelastungen zum Platzen brachte, bevor sie die Weltbörse erschütterte.
(Bild, Mitte: Rodney McMillian, “shaft”, 2021/2022, Marta Herford, 2024
Das seltsame Wahlsystem, die auf Lügen basierenden schmutzigen Kriege wegen Öl.
Die “Great Migration” von etwa sechs Millionen Afroamerikanern aus den ländlichen Gebieten der Südstaaten in die Industriestädte des Nordens zwischen 1910 und 1970, von denen in den Bücherregalen unserer weißen Hausbesitzer – wirklich noch Hausbesitzer? – nichts geschrieben stand, an die aber Rodney McMillians Video-Arbeit “A Migration Tale” (2014/2015) erzählt, und zwar mit einer von einer Veranda in South Carolina zum New Yorker Central Park tanzenden, maskierten schwarzen Figur.
Der politische Einfluss der fundamentalistischen Evangelikalen mit ihrer Erweckungsliebe zum Erlöser, die gegen Homosexualität und Aufklärung wettern, die Evolutionslehre aus den Schulbüchern verbannen – und die den Kosmos in frömmelnden TV-Shows missionieren wollen.
Und mit den – vornehmlich weißen – Evangelikalen auch der von ihnen gottgleich verehrte narzisstische Egomane Donald Trump, der in seiner ersten Amtszeit als republikanischer US-Präsident erzkonservative Richter in den Supreme Court setzte, die ihm als Dank durch die Verschiebung der Immunitätsklärung den Weg zu einer zweiten Amtszeit freigeschaufelt haben: einer Amtszeit, für die sich Trump ganz offen die Abschaffung der Demokratie auf die sternlosen Fahnen geschrieben hat.
Ein gut bestelltes Haus hat DIESER Präsident jedenfalls ausschließlich für seine eigene, als Schmierenkomödie inszenierte Auferstehung hinterlassen.
Keine Visionen der Gleichheit mehr
Von der großen Vision einer auf Bildung und sozialer Absicherung basierenden “Great Society” ohne Armut und rassistische Ungerechtigkeit, die der demokratische US-Präsident Lyndon B. Johnson 1964 an der Universität von Michigan entwarf und die Rodney McMillian in einer weiteren Videoarbeit in Herford performt, ist auch im Haus im Marta nicht viel geblieben.
Der letzte US-Präsident, der eine ähnliche Vision vertrat, war der demokratische Afroamerikaner Barack Obama. Jetzt regieren wieder alte weiße Männer, die sogar noch älter sind als wir.
“In diesem Sinne: Auf Wiedersehen! Und: Danke für die Einladung. Sie haben ein – hm, ja: ganz erstaunliches Haus.”
“Thanks for the flowers! And: you are welcome!” (28.04.2024)
“Rodney McMillian. The Land: Not Without a Politic” ist noch bis zum 16. Juni 2024 im Marta Herford zu sehen.
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Supertoller Beitrag, ich bin begeistert! ihr seid wirklich die originellsten Schreiber im deutschen Kunstbetrieb! Phantastisch und weiter so! RobertM
Antwort KunstArztPraxis: Wenn Sie uns sähen, Sie sähen uns erröten. Danke danke danke. Ihre KunstArztPraxis.