Unser Totem: der Wolf. Kiki Smith in Remagen
Gerade ist die Welt mal wieder voller böser Wölfe. Aber es gibt auch die guten: in den Träumen, in der Kunst, teils sogar im Leben. Daran mussten wir denken, als wir Kiki Smiths „Verwobene Welten“ im Arp Museum sahen: diese bezaubernd märchenhafte – und irgendwie auch politische – Kosmologie.
Als Kiki Smith uns in Remagen erzählte, dass die stolze Frau, die in der Skulptur „Rapture“ (2001) dem viel zu kleinen Körper des Wolfes entsteigt wie Boticellis Venus der viel zu flachen Muschel, für sie die „grandmother“ sei, dachten Zwei von uns natürlich sofort an Rotkäppchen.
Einer von uns aber dachte an einen Traum, der ihn in seiner Kindheit über all die Jahre beschlich.
„Ich bin im Badezimmer, es ist Schlafenszeit, da klingelt es“, sagt unser Einer. „Die Eltern öffnen. Ich höre Murmeln. Ich weiß: Das ist der Wolf, der mich verschlingen soll. Die Eltern wollen, dass ich die Nacht in seinem Maul verbringe.
Die Eltern klopfen an der Badezimmer-Türe, rütteln an der Klinke. Es sei alles in Ordnung, sagen die Eltern mit ihren Kreidestimmen, es sei doch nicht so schlimm. Ich blicke mich verzweifelt um nach einem Versteck. In der Badewanne ist eine Kachel locker, ich versuche, mich klein zu machen. Aber so klein, wie ich mich machen möchte, kann ich im Traum nicht werden.
Dann öffnet sich die Tür, der Wolf tritt ein. Die Eltern stehen liebevoll lächelnd hinter ihm und winken. Ich blicke in den Wolfsrachen, der immer größer wird. Dann wache ich auf.“
Später habe er einen wunderlichen Mann getroffen, der in Archetypen denken konnte, sagt unser Einer, dem habe er den Traum erzählt. Und der habe ihn sofort gefragt, ob er vielleicht von seiner Großmutter großgezogen worden sei? Der Wolf sei genau der Archetypus dafür.
Der wunderliche Mann hatte recht!
Wir wissen nicht, ob das mit dem Archetypus stimmt, die traumdeutende Psychoanalyse kommt uns eher selten auf die Couch.
Aber der wunderliche Mann hatte recht: Unser Einer war tatsächlich von der Großmutter großgezogen worden! Die Eltern arbeiteten in seiner Kindheit beide. Das Geld des Vaters reichte nicht aus.
Der Schreck der verzückenden Enthüllung sitzt unserem Einen noch heute in den Gliedern.
So ganz verstehen können wir den Traum unseres Einen trotzdem nicht, denn seine Großmutter war eine gute Wölfin. Wir anderen kannten sie ja auch.
Als die bösen Wölfe 1938 die Juden durch die Straßen trieben, rief sie den Schergen zähnebleckend entgegen, dass sie Schweine seien, die sich schämen sollten.
Da musste sie um ihr Leben laufen, über die Bleichewiese durchs Weierhohl und die ganze Steinkuhle, bis sie hinterm Hexenturm vor ihren Verfolgern endlich eine Zuflucht fand.
Und als dieselben braunen Wölfe kurz darauf den Weltenbrand entfachten, zog besagte Großmutter mit leerem Magen tagtäglich kilometerweit übers Land, um von den Bauern Eier, Rüben oder Milch für ihre hungernde Familie zu erbetteln.
Kiki Smith, „Woman with Wolf“ (2003), Arp Museum, Remagen 2024
„Hamstern“ nannte man das damals. Man hätte es aber genauso gut „wölfeln“ nennen können.
Egal. Wenn man von der wunderlichen Deutung von Träumen her kommt, in denen ja bekanntlich Alles in Alles übergehen kann, dann ist die – offenbar von innen aufgebrochene – Hülle der Wölfin von „Rapture“ der Kokon, in dem sich der Körper der guten, stolzen, großen Mutter zu neuem Leben verwandelt hat.
So gesehen hätte der Wolf bei Kiki Smith auf märchenhafte Art & Weise etwas archetypisch Gutes hervorgebracht: Selbst dann, wenn er mit seinem Verschlingungs-Wunsch verschlagen gewesen wäre.
Wir wissen nicht, ob Kiki Smith eine Wölfin zur Großmutter hatte, ob dieses Tier ihr Totem ist. Es könnte genauso gut der Hase sein, wenn wir auf ihre Bilder und Skulpturen blicken, die Eule, das Reh, der Adler, der Stern. Das sind Motive, die immer wiederkehren.
Auf jeden Fall kann Kiki Smith in Archetypen denken wie der wunderliche Mann, und das ist bei Künstler*innen immer eine tolle Sache.
Weniger aus tiefenpsychologischen, als vielmehr aus poetischen Gründen.
Denn Kiki Smith ist es gelungen, aus besagten Motiven, die wohl in jedem Betrachter & in jeder Betrachterin Assoziationen wecken, eine ganz eigene, sehr persönliche Kosmologie zu weben: eine Kosmologie der großteils friedlichen, nährenden Natur, in der der Mensch mit den anderen Tieren in Harmonie zusammenlebt, In dessen ganzheitlicher Ausprägung der Tod nicht das endgültige Ende ist.
Davon erzählen diese Bilder, die auch Gegenbilder sind zu Krieg & Katastrophen & der bedrohten Schöpfung in unserer Gegenwart, die politisch sind, ohne politisch zu sein, ohne zu erzählen, qua ihrer bloßen Existenz als körperliches Bild – und dies alchemistisch bis hin zum Material, zum Amethyst und Zitronenquarz, zum Gold- und Silberfaden.
Auch das ist eine große Kunst, wenn sich Form und Inhalt im Bild zusammenreimt.
In Kiki Smiths Welt ist tatsächlich alles kosmisch & transzendent & konzentriert miteinander verwoben: Der Titel der Schau im Arp Museum weist darauf hin. Sie ist verwoben wie im Traum – oder wie das Garn jener Teppiche, aus denen sie zum Teil besteht.
Neun ihrer bisher zwischen 2011 und 2017 am elektrischen Webstuhl entstandenen zwölf Jacquard-Tapissieren sind in Remagen zu sehen, 54 Skulpturen, Zeichnungen, Drucke, Foto- und Textilarbeiten sind es insgesamt.
Dass Kiki Smith sich bei ihren Geweben von berühmten Apokalypse-Zyklus im Schloss Angers aus dem späten Mittelalter inspirieren ließ, passt gut ins kosmologische Weltbild: Denn nach dem Ende geht es weiter.
Und dass ihre großformatige Entwürfe aus Papier im Arp Museum direkt neben den Teppich-Kosmen hängen, finden wir besonders toll. Denn so wird ersichtlich, wie sich auch die Bilder im Laufe ihrer Entstehung mit Stift und Computer verändert haben.
Und ja, es stimmt: Es sind fast ausschließlich starke Frauen, weibliche Körper, Göttinnen, Evas, Urmütter vielleicht, die bei Kikki Smith zu sehen sind. Die auf gezähmten Wölfen reiten, gute, starke, stolze Wölfinnen sind.
Ob das eine Kunst ist, die man feministisch nennen muss (ein Begriff, der bei Kikki Smith immer als erstes fällt), ist uns von Herzen egal. Uns reicht, dass diese Kunst auf sehr poetische Art & Weise wahr ist: dass es die starken Frauen, die einem viel zu kleinen Wolf entstiegen sind, tatsächlich gibt.
Schließlich stammt Einer von uns von Einer ab.
Es muss zum Abschluss noch gesagt werden, dass die Großmutter, die uns allen in ihrer Stärke lange als unsterblich galt, einmal, mit fast hundert Jahren, dennoch starb.
Einer von uns wohnte inzwischen im fernen München; die Eltern sagten, sie würden bis zu seiner Rückkehr warten, bevor sie den Onkel, den Bestatter, riefen: So konnte unser Einer die Großmutter noch unter weichen Daunen gebettet liegen sehen: friedlich schlafend, mit geschlossenen Augen, also ganz anders als Rotkäppchen den bösen Wolf.
Dann kam der Onkel und hüllte den Leib der Großmutter in einen viel zu großen Kokon aus weißem Plastik, bevor er ihn auf die Bahre hob.
Der Kokon hatte einen schwarzen Reißverschluss, daran erinnert sich unser Einer noch. Zuletzt verschwanden die schlohweißen Haare, dann war die Großmutter verschlungen.
Er hat das damals nicht so empfunden, aber mit Kiki Smiths „Rapture“ im Rücken kommt es auch uns Anderen im Nachhinein irgendwie so vor, als wäre die Großmutter damals in den Bauch des nunmehr viel zu großen Wolfes zurückgekehrt, aus dem sie gekommen war wie Botticellis Venus aus der viel zu flachen Muschel.
Und der Bestatter-Onkel hätte mit dem Reißverschluss auch die Wunde im Bauch des Wolfes verschlossen wie bei Rotkäppchen der Jäger.
Wer weiß, was danach dem Kokon entsprang. Vielleicht Nachtfalter wie die, die über Kikki Smiths Spinnweb-Teppich flattern?
(Bild: Kiki Smith, Spinners, 2014, Arp-Museum, Remagen 2024)
Denn das Leben verwandelt sich ja immer wieder neu. Wenn Kiki Smiths Werke eine entzückend tröstliche Botschaft haben, dann vielleicht diese.
Wir wollen es mit den guten Wölfen halten
Wir jedenfalls wollen uns an die guten Wölfe halten, an die schönen, bestrickenden, berührend weisen Märchen und Mythen, die uns die Kunst entwirft. Gerade Kikki Smiths Bilder sind voll davon, trotz aller nicht verschwiegener Tränen.
Die hinterhältigen, skrupellosen Mythen können sich die wirklich bösen Wölfe in der braunen Blase ihres Rudels selbst erzählen. Und in ihren seelenlosen Körpern den bleichen Mond beheulen. Und sich, die Schweine, was schämen. (26.05.2024)
„Kiki Smith. Verwobene Welten“ ist noch bis zum 20. Oktober 2024 im Arp Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen zu sehen, dann wandert die Schau weiter nach Montenegro und Schweden. Ach ja: Auch der Katalog zur Ausstellung ist eine Wucht.
Anmerkung: Zur Wolfsgeschichte besagter Großmutter gehört noch, dass sie sich 1937 bei einer Pflichtveranstaltung der Nazis im Hotel „Zum Schwanen“ trotz aller böser Blicke weigerte, die Hand zum Hitlergruß zu heben. Wochenlang lebte sie danach in Angst, von den Mitläufern im Publikum denunziert worden zu sein.
Wir wären gern wie sie.
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Wow. Was für eine Oma. Eine echte Wölfin.
Danke für den tollen Beitrag! Diese Ausstellung schaue ich mir auf jeden Fall an.
MS