Traum hinter Geste: Ruth Marten in der Villa Zanders
Bekannt wurde die New Yorker Künstlerin Ruth Marten mit Ihren Collage-Übermalungen von Kupferstichen des 19. Jahrhunderts. Jetzt hat sie sich ein Portfolio von Tänzerinnen eines Pariser Varieté-Theaters geschnappt. In unseren Augen ist das künstlerische Traumdeutung. Aber von Anfang an:
Die Tänzerinnen des Folies Bergère waren einsam wie Sumpf-Krokodile und bettelarm wie Kirchenmäuse, und während sich der Rest von Paris in den Zwanzigerjahren bei Jazz-Musik, Josephine Baker & gefährlichen Ideen allen nur erdenklichen Lastern hingab, hockten sie nackt in ihren kargen, nur von einem Vorhang möblierten Stuben und bliesen Trübsal.
Diesen namenlosen Tänzerinnen war nichts geblieben: nichts, außer einer einzigen persönlichen Geste, einer einzigen ausgeklügelten Körperhaltung, einer einzigen individuellen Stellung der Hände und der Füße.
Und hätte der britisch-polnische Fotograf Stanisław Julian Ignacy Ostroróg alias Laryew nicht Mitleid mit ihnen gehabt und sie für sein Portfolio „NUS“ (1923) daheim abgelichtet, dann wären selbst diese Gesten, Haltungen, Stellungen für immer verloren.
Tänzerinnen-Träume aus Gouache
Natürlich hatten auch die Tänzerinnen des Folies Bergère in ihrer einsamen Nacktheit Träume.
Interessanterweise sind diese Träume ausgerechnet in jenen einzigartigen Gesten, Haltungen und Stellungen verborgen, die Stanisław Julian Ignacy Ostroróg alias Laryew im Paris der Zwanzigerjahre festgehalten hat: Das haben wir aber erst im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach begriffen.
Es ist nämlich Ruth Marten zu verdanken, diesen Zusammenhang zwischen Traum und Geste in „All About Eve“ mittels ihrer Gouache-Technik quasi seelen-archäologisch aufgedeckt zu haben. Mit hüpfendem Herzen.
Das Techtelmechtel mit dem Schwan
Offenbar hätten die Tänzerinnen des Folies Bergère am liebsten in fremden Nestern auf blauen Eiern gebrütet, in Röcken aus Spaghetti im Fleischbällchen-Regen frohlockt.
Mit Freuden hätten sie in Beckett’schen Meerschaum-Pfeifen viel Rauch um Nichts gemacht – oder wären unter den Blicken schlafender Brancusi-Köpfe gern lustvoll mit Einbau-Schränken verschmolzen.
Sie wünschten sich mehr Arme als Indiens kosmischer Tänzer Shiva, Penisse als Hut-Ständer oder kirchturmhohe Kletter-Wand. Und ein akrobatisches, fast schwereloses Techtelmechtel mit einem – wie wir vermuten: göttlichen – Schwan: Das wünschten sie sich auch.
Einige dieser Tänzerinnen wollten sich offenbar gänzlich in Schnee – oder Zucker? – oder Salz? – auflösen, in Flammen aufgehen oder in einer rotierenden Kaffeetasse posend im Malstrom des Lebens verstrudeln – während wiederum andere in einer Art exotischer Mimikry mit floralen Tapeten zu verwachsen wünschten.
Die liaison dangereuse mit dem Reptil
Sturmumtoste Leuchttürme, selbstwässernde Blumen oder chromglänzende Motorräder: Das wollten sie werden. Und erstaunlich Viele von ihnen ersehnten sich offenbar eine liaison dangereuse mit einem Krokodil.
Natürlich träumte ein neonumrahmter Teil dieser armen, einsamen Tänzerinnen – wie der ganze Rest von Paris in den verruchten Zwanzigerjahren – auch vom Laster. Bezeichnenderweise gehören die drei Beweis-Couachen von Ruth Marten inzwischen zum Bestand des Neon Museums in Las Vegas, denn dahin ist das Laster ja bekanntlich irgendwann von Paris aus migriert.
Das ist unser Lieblingstraum
Eine, die ebenfalls vom Laster träumte, war in der ärmlichen Einsamkeit ihrer Behausung zumindest noch ein düstrer Wand-Teppich geblieben. Vor ihm hat Ruth Marten im Kunstmuseum Villa Zanders den Wunsch freigelegt, mit einem Krokodil in einer schummrigen Hafen-Bar im Rotlicht-Viertel an der Seine, durch die schwüle Nacht tanzend, zu versumpfen.
Unter allen Träumen von „All About Eve“ in Bergisch Gladbach ist DAS unser liebster.
Der mitgedachte Fußtritt
Offenbar gehörte es zur Phantasie der namenlosen Tänzerin unbedingt dazu, dass besagtes Krokodil ihr beim schummrigen Versumpfen in der Hafen-Bar auf die Füße treten solle:
Anders ist die von Stanisław Julian Ignacy Ostroróg alias Laryew 1923 festgehaltene Stellung, die die schläfrige Tollpatschigkeit des Reptils im Nichts eines eher monologischen pas de deux mitdenkt, gar nicht zu deuten.
Aber das können wir, wie schon gesagt, erst dank der großartigen Ruth Marten glockenklar sehen.So ergibt in Ruth Martens „All About Eve“ selbst die groteskeste, absurdeste, bei Laryew irgendwie noch ins Leere laufende Geste, Haltung, Stellung im Nachhinein dieser künstlerischen Traumdeutung unumstößlich Sinn. (12.01.2025)
„Ruth Marten. All About Eve“ ist noch bis zum 21. April 2025 im Kunstmuseum Villa Zanders in Bergisch Gladbach zu sehen. Der Katalog mit allen 63 ausgestellten Träumen ist selber einer. Darüber hinaus sind in einem Raum der Ausstellung auch noch rund 30 Arbeiten von Ruth Marten aus den letzten 15 Jahre zu sehen. Auch eine Schau.
Ach ja: Während Sie dies lesen, ist Ruth Marten in ihrem New Yorker Atelier bereits dabei, weitere Träume der Tänzerinnen des Folies Bergère auszugraben. Sie ist nämlich noch nicht fertig mit ihrer künstlerischen Traumdeutung, rund 30 Träume fehlen ihr noch! Wir haben schon einige der neuesten Arbeiten gesehen. Und die sind ebenfalls große Klasse.
Bonus-Tracks: Ruth Marten in Brühl (2018) und Köln (2022)
Ruth Marten in der KunstArztPraxis:
Ruth Marten in Köln: Köpfe im Tentakel-Käfig
Gut eingelaufen: “The Schuh Show” in Köln
Das Kunstmuseum Villa Zanders in der KunstArztPraxis:
Mehr Babel war nie! Jenny Michel in Bergisch Gladbach
Wie sagen wir’s den Bienen? “HONIG” in der Villa Zanders
In Brüchen denken: “Martin Noël – Otto Freundlich”
33 Malantworten: Rolf Rose in der Villa Zanders
Mechtild Frisch: Aufschein im Verschwinden (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Katharina Hinsberg: Making-of “Linie im Raum” (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Reine Bildgebung (8): “Still Lines” in der Villa Zanders (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Schönheits-OPs (3): Kunstmuseum Villa Zanders
Intuition statt Kochbuch. Ein Editionsgedicht
“Bibliomania” in Bergisch Gladbach: Buch als Körper (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Hede Bühl: Mit Strichen modellieren (leider Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
Ich bin Fan von Ruth. Und von euren fabelhaften Texten
Antwort KunstArztPraxis: Danke, liebe Anke. Das war gerade jetzt (wir sagen nicht warum) sehr wertvoll. Erröten Hilfsausdruck (Wolf Haas). Ihre KunstArztPraxis
Ihr seid Teufelskerle! Was für ein großartiger Beitrag über eine tolle Künstlerin. Danke aus ganzem Herzen. Anne