Der Kreativ-Krakeeler. Luigi Colani im Marta
Kein Kreativer war in unserer Sauerländer Jugend präsenter als der Allround-Designer Luigi Colani (1928-2019). Dass das berechtigt war, hat uns allerdings erst seine aktuelle Großschau in Herford aufgezeigt. Denn: Bei Colani folgt die Form zwar der Funktion: Das ist Design. Aber: diese Form: DAS ist Skulptur!
Was zeitgenössische Kunst anging, verlebten wir Drei von der KunstArztpraxis unsere Kindheit im Tal der Ahnungslosen. Manchmal schwappte aber doch etwas davon über die verschneiten Kuppen des Lands der tausend Berge: mit dem „Sauerländischen Volksblatt“, später: der „Westfalenpost“. Oder mit dem WDR oder der „Tagesschau“.
Das hatte dann aber immer etwas mit Skandal zu tun. Und, unserer Erinnerung gemäß, mit dem Dreigestirn skandalöser Aufmüpfigkeit: Joseph Beuys, Harald Naegeli – und Luigi Colani.

Der Skandal um Joseph Beuys, das war vor allem seine Hausbesetzung der Düsseldorfer Kunstakademie, der Skandal um Harald Nägeli die spektakuläre Flucht des dann wegen Sachbeschädigung mit internationalem Haftbefehl gesuchten „Sprayers von Zürich“ ins Rheinland.
An Luigi Colani war einfach alles ein Skandal
Luigi Colani wohnte protzig im Münsterland im SCHLOSS. Er war auf großspurige Art & Weise arrogant. Er lebte hedonistisch in Saus und Braus. Er hatte Jünger (und Affären?). Und sein Rundes, das war Waldorf.
Kurzum hatte sich Luigi Colani wie Joseph Beuys zur eigenen Marke gemacht, die medial unseren Neidmuskel zu aktivieren verstand. Nur eben nicht mit Hut und Multifunktionsjacke, sondern mit Schnurrbart, Zigarre und weißem Rollkragenpullover.
Beziehungsweise, hier wieder ganz bei Joseph Beuys: mit seiner Signatur.


Poltern in der Eiche-Schrankwand
Wenn Luigi Colani nicht gerade mit seinen Jüngern auf einem Styropor-Floß durch den Schlossgraben seiner „Designfactory“ (Andy Warhol? Nein: Luigi Colani!) schipperte, wenn er nicht unseres Erachtens schnödweiße Wandfarbe mittels seiner Unterschrift hokuspokus in „Colani-Weiß“ verwandelte oder in irgendeiner Wüste Gobi in Geschwindigkeitsräusche verfiel:
Dann saß Luigi Colani in Talkshows und krakeelte aus den in den rustikalen Schrankwänden unserer elterlichen Wohnzimmer versenkbaren Fernsehern polternd und mit einer Zigarre oder einem Weinglas in den Händen wild gestikulierend über diese „Idioten“ (Luigi Colani) der Möbel- und Autoindustrie.

Und weil die von ihm gescholtenen Möbelhersteller und Autoindustriellen seine Genialität partout nicht erkennen wollten, zog Luigi Colani vor laufender Kamera tödlich beleidigt & schmollend als Guru nach Japan.
Das war im Tal der Ahnungslosen so unser Bild. Und: Wir sind uns ziemlich sicher, dass das ganze Sauerland das damals genauso sah.
Bitte Abstand halten!
Auch als wir das Tal der Ahnungslosen Richtung weite Welt verließen, blieb Luigi Colani für uns der Klaus Kinski des Gestaltens.
Dann geriet er in der KunstArztPraxis sogar gänzlich in Vergessenheit.

Was aber Luigi Colani als Kreativ-Krakeeler seit den Siebzigerjahren tatsächlich Neues, Revolutionäres, selbst nach 50 Jahren immer noch erstaunlich innovativ Wirkendes mit seinen „Formen der Zukunft“ vollbracht hat, ist uns erst kürzlich im Marta Herford aufgegangen.
Das müssen wir zu unserer Schande gestehen.
„90 Prozent Natur, 10 Prozent Colani.“
Luigi Colani
Das ist vom Menschen und den Formen der Natur her gedachtes, teils auch nachhaltiges, ressourcenschonendes, gegen den damals gängigen geraden Bauhaus-Strich gebürstetes „Bio-Design“ (Luigi Colani).
Aus einer Zeit natürlich, die im Plastik bis zur Ölkrise etwas verblendet nur die unbegrenzten Möglichkeiten sah.*
*Im Zuge der Ölkrise schwenkte Luigi Colani dann
aber ohnehin um zum Holz.


Dass Luigi Colani eine Ausbildung als Bildhauer und als Aerodynamiker in Personalunion genoss: Beides sieht man seinen Entwürfen und Produkten an. Es sind nämlich Formen, die ihrer Funktion im Alltag folgen sollen – und trotzdem das Zeug haben zur Skulptur.
Dass Luigi Colani zudem soziale Ideen hatte, die das menschliche Zusammenleben vom Tiny House bis hin zu einer – als Körper durchgestylten – Wissenschaftsstadt samt „grüner Lunge“ und Verkehrs-Adern überspannten, dass er die Gesellschaft mit Dein offenbar verändern wollte:
Das verbindet ihn mit den urbanen Visionären der Moderne ebenso wie mit einem Akademiebesetzer wie Joseph Beuys.

Dass Luigi Colanis ergonomische Skulpturen in Form von Möbeln nachhaltig mit Kindern mitwuchsen, dass sie als Autos teils auf Elektromotoren fußten oder Geschwindigkeits- ebenso wie Spritspar-Rekorde brachen – und dass die Möbelhersteller und Autoindustriellen dieser Erde dies so arrogant ignorierten (übrigens: ebenso wie die idiotischen Politiker, die sich um geringere Mineralölsteuer-Einnahmen wegen stromlinienförmiger Lkw Sorgen machten):
Dass all dies Luigi Colani zur Weißglut brachte, das können wir inzwischen gut verstehen. Und dass er als Prophet deshalb aus dem eigenen Lande zum Berg – vulgo: zum Fuji – ging, inzwischen auch.
Im Grunde arbeitete Luigi Colani ja auch gar nicht an Produkten: Luigi Colani arbeitete an einem aus Produkten bestehenden Gesamtkunstwerk. Luigi Colani wollte eine perfekte Umwelt für die Menschheit erschaffen, eine zweite, neue, lebenswertere Erde aus Kunststoff, Holz, Keramik.
Und zwar ganz bodenständig auf der guten alten Erde selbst. Terraforming zuhause – und nicht, wie all die rechtspopulistischen aktuellen Visionäre mit ihren vollgestopften Hosen, auf dem Mars.
Er hätte sie mit seinem Rauch signiert
Ach ja: Wenn Luigi Colani das Gesamtkunstwerk gelungen wäre, und wenn all die Autoindustriellen und Möbelhersteller und Politiker sich geweigert hätten, Idioten zu sein: Dann hätte Luigi Colani diese seine zweite Erde mit dem Rauch seiner Zigarre im Himmel qua seiner wolkigen, nein, besser: kondenzstreifigen Unterschrift großflächigst signiert.


Daumen hoch für Weißburgunder?
Rund 200 Design-Objekte, Zeichnungen, Fotos und Dokumente von Luigi Colani trägt die Schau in Herford zusammen.* Bis heute scheinen uns einige davon dann doch allzu verwegen, vielleicht auch etwas protzig.
Wir müssen unsere Daumen nicht in ein ergonomisch neu geblasenes Weinglas stecken, um unseren Weißburgunder noch vollmundiger im Abgang zu genießen – uns reicht die Jahrtausende alte, bewährte, klassische Variante.
Und in die rollende Männer-Phantasie „Pierce Arrow“, deren einziger Prototyp ebenfalls in Herford zu sehen ist, wären wir vielleicht erst gar nicht eingestiegen.
*uns fehlte eigentlich nur der von Prince gekaufte „Pegasus“-Flügel.


Aber dass Luigi Colani sogar über so etwas jahrhundertealt Bewährtes nachgedacht hat wie Weingläser, dass er alles schon einmal Gestaltete infrage stellte, umgestalten, verbessern wollte, das imponiert uns schon.
Wie gesagt haben wir dies alles erst in Herford begriffen. Aber für Luigi Colanis „Formen der Zukunft“ ist das ja noch nicht zu spät. (19.01.2025)
„Luigi Colani. Formen der Zukunft“ ist noch bis zum 23. März 2025 im Museum Marta Herford zu sehen. Parallel dazu läuft, diesmal ebenfalls in den Gehry-Galerien, die Schau zum 11. RecyclingDesignpreis, die wie eine Fortsetzung der Colani-Ausstellung angelegt ist: ein ebenso simpler wie großartiger Einfall. Chapeau.
Anmerkung: Wir sollen schön grüßen von KunstArzt1! Und noch etwas sagen, nämlich: 1986 designte Luigi Colani die Spiegelreflexkamera Canon T90 – unser erster KunstArzt hatte damals selber ein Exemplar davon. Dass diese T90 das Kamera-Design in seiner Haptik bis heute nachhaltig revolutionierte, dass sich die meisten Kameras daran orientieren – das kann nun wirklich niemand mehr bestreiten. Nichtmals im Tal der Ahnungslosen.

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