Was die Natur vergaß: Christiane Löhr in Remagen
Kuppeln aus Gräsern, Monde aus Samen und ein schwebender Teppich aus Pusteblumen-Köpfen: Im Arp-Museum hat die Kölner Künstlerin Christiane Löhr aus Pflanzen und Haaren teils winzig kleine große Kunst gemacht. Das hat einiges mit klassischer Bildhauerei zu tun. Und ist doch einzigartig anders.
Wir von der KunstArztPraxis nähern uns dem Gegenstand unserer Diagnosen bekanntlich hin und wieder von der Peripherie her an, deshalb beginnen wir unsere Überlegungen zur wundervollen Kunst von Christiane Löhr, anders als vor ein paar Jahren, diesmal mit einem Antipoden: mit Michelangelo.
Der hat ja mal behauptet, dass die Idee zu seinen Skulpturen jeweils schon im Stein verborgen gewesen sei – er habe sie nur freimeißeln müssen. Über diesen rätselhaften Gedanken haben wir hier und hier schon einmal nachgedacht.
Wenn man den Neo-Platonismus abzieht, dem Michelangelos Bescheidenheit hochtrabend geschuldet ist, dann könnte man tatsächlich ganz profan behaupten, dass natürlich auch die „Idee“ des Materials den Künstler leite. Im Fall von Michelangelo: die Eigenschaften des Marmors, der vorgibt, wie das Genie zu Werke gehen müsse.
Oder seine ganz persönliche Qualität. Michelangelos David zum Beispiel steht ja nur deshalb so, wie er in den Uffizien dasteht, da, weil der schon vorbehauene Marmorblock, aus dem der Meister ihn befreit hat, neben Adern und Bläschen auch noch andere Macken hatte. Die große Kunst ist, dass man das nicht sieht.
In diesem bildhauerischen Sinne denkt auch Christiane Löhr, trotz aller Unterschiede, von der „Idee“ des Materials her. Sie erforscht die Eigenschaften ihrer Flugsamen, Pflanzenstängel, Kletten, Baumblüten und Pferdehaare wie Michelangelo die Anatomie des Blocks.
Oder wie ein bionisch denkender Ingenieur. Mit dem entscheidenden Unterschied, dass es Löhr nicht um die Übersetzung ins Technisch-Funktionale geht, sondern um neue Möglichkeiten, mit der Tektonik, den Strukturen, Biegsamkeiten und Stabilitäten ihrer organischen Fundstücke künstlerisch umzugehen.
Man könnte vielleicht sagen, dass Christiane Löhr durch intensive Beobachtung und geduldiges Experimentieren jene Ideen aus dem Bauplan der Natur freilegt, die die Natur selbst vergessen hat.
Sie ordnet Kletten völlig neu zu Gefäßen und türmt Efeustängel zu Gebirgen und hängt Gespinste aus Distelsamen an die Museumswand wie Monde ans Firmament. Aber sie zwingt den Kletten und Stängeln und Samen im Grunde diese neuen Formen nicht auf.
(Bild: Christiane Löhr, „Kleine Dreierkuppel“, 2018, Arp Museum, Remagen 2023)
Es gibt keinen Klebstoff und keinen Draht und keinen Fixierer und keine Floristentricks. Höchstens ein paar Nadeln.
Es ist ja auch kein doppelter Boden nötig, allerdings Behutsamkeit. Denn: die Kletten KÖNNEN ja Gefäße bilden, die Efeustängel sich zu Gebirgen aus sechseckigen Bausteinen türmen, die Distelsamen in ihrem Netz aus Pferdehaar wie opake Monde schimmern. Und Grasstängel können, in gegenseitiger Zuneigung sozusagen, wahre Kathedralen sein.
Sie haben es nur noch nie zuvor versucht. Und sie sind es deshalb natürlich auch noch nie zuvor gewesen.
Das ist die große Kunst
Die Logik für das, was entsteht, hat im Baustein als Idee aber trotzdem seit Jahrtausenden, seit Jahrmillionen geschlummert. Christiane Löhr hat diese Geheimnisse für ihre Skulpturen „nur“ geweckt.
Dass das im klar Artifiziellen ihrer Werke trotzdem so ungekünstelt aussieht, weil alles so präzise ist, weil es so wirkt, als könnte es auch im Zusammenspiel der Eigenschafts-Ideen plastisch gar nicht anders sein: Das ist die große Kunst.
Besonders imposant gelingt dieses Zusammenspiel in unseren Augen bei der „Großen Samenwolke“ (2023), die im Arp Museum von der Decke hängt.
Für diese Skulptur hat Christiane Löhr Distelsamen in eine Membran aus elastischem Haarnetz geworfen: Die Distelsamen haben im Grunde kein Gewicht, schaffen aber ein Volumen, das das zerdehnte Haarnetz Richtung Boden zieht.
Die „Große Samenwolke“ ist eine riesige, durch Schwer- und Fliehkräfte zusammengehaltene Schwerelosigkeit. Gebanntes Schweben, das sanft & leise ununterbrochen mit Zerstäubung droht.
Dieser zum Zerreißen gespannte Zusammenhalt aus Dehnung und Pressung, Verpuffen und Verdichten, dieses Atmen im Resonanzraum des Museums ist ein visuelles Wunder.
Gewaltige Winzigkeiten
Volumen und Leere, Abstand und Nähe, Masse und Luftigkeit, Ruhe und Bewegung – und die rhythmisierende Wirkung auf den Raum: Das sind die großen Themen Löhrs, wie in der klassischen Bildhauerei. Wie bei Michelangelo.
Aber Michelangelos Bildhauerei ist hart & übermenschengroß heroisch, sie ist komplett urbaner Marktplatz, aus dem Block gehauener, auf Ewigkeit zielender Wert: Was hier in Stein gemeißelt sichtbar wird, ist ein auch politisch gemeintes Statement für die Freiheit des menschlichen Seins.
Löhr Kunst hingegen ist klein, zart & zerbrechlich, sie könnte jederzeit mit einem Lufthauch vergehen. Vieles im Arp Museum ist erst vor Ort entstanden, es hätte den Transport aus Köln nicht überlebt.
Diese Skulpturen zielen auf nichts ab. Sie behaupten nichts außerhalb ihrer selbst; ihre natürliche Schönheit ist nicht von dieser Welt, sondern formt eine andere.
Dass sich die Werke sogar in den riesigen, von Richard Meier strahlend hell gestalteten Räumen in Remagen behaupten können, in ihrer so gewaltigen Winzigkeit, ist eine kleine Sensation.
(Bild: „Kleiner Haarkelch“, 2006, Arp Museum, Remagen 2023)
Löhr Skulpturen sind nicht Natur, oder Beschreibung von Natur, das könnte man leicht missverstehen: Sie sind Abstraktionen. Sie ziehen die Natur von sich selber ab. Wenn sie ein Statement haben, dann höchstens dieses: Dass Kunst alles Mögliche kann, auch jenseits der Natur. Und selbst dann, wenn sie sich ihrer bedient.
Kunst kann sogar Flugsamen, Pflanzenstängel, Kletten, Baumblüten und Pferdehaar in Kathedralen und architektonische Geometrien verwandeln, dem Material eine andere Idee als die biologische innewohnen lassen. Das ist ein Schritt aus der Evolution heraus, mit ihren vergessenen Mitteln.
Anders, besser können wir das nicht sagen.
Kulturelle Aneignung der Natur
Das ist das Unerhörte, Ungeheuerliche an Löhrs winziger, filigraner Arbeit, eine Form der kulturellen Aneignung, gegen die niemand etwas sagen kann: schon allein deshalb, weil sie sprachlos macht.
Man fühlt sich ziemlich mini vor diesen kleinen Werken im Arp Museum, vielleicht sogar noch kleiner als in den Uffizien vor dem riesigen David Michelangelos. Denn bei Löhr braucht das Großartige keine physische Größe. Es ist in seiner Zartheit stark und in seiner Verletzlichkeit – aus sich heraus – stabil, robust genug.
Dieses Phänomen kann man in Remagen noch bis zum 21. Januar 2024 anhand von rund 80 Werken aus vier Jahrzehnten bestaunen. Man sollte sich die Chance nicht entgehen lassen.
Früher hätte man vermutlich gesagt, dass Michelangelos Kunst „männlich“ und Löhrs Kunst „weiblich“ sei, aber heute sind derlei Kategorisierungen ja obsolet, was soll das auch sagen. Auf jeden Fall sind es zwei komplett verschiedene Arten, an Bildhauerei heranzugehen. Aber in unseren Augen eben mit der „Idee“ als Bindeglied.
Wo die Sensationen schlummern
Und noch etwas anderes ist anders, denn: Auf Löhrs Kunst muss man sich einlassen. Ihre Sensationen springen nicht ins Auge, sie schlummern im Unscheinbarsten. Es ist weniger ein sehendes Erkennen als ein erkennendes Erspüren nötig. Das ist nicht weniger radikal als eine Bildhauerei, die sich auf Michelangelo berufen kann.
Und dann blickt man durch die riesigen Scheiben des Meier-Baus nach draußen auf die Landschaft und begreift, dass sich Löhrs ausgestelltes Werk doch auch ein Stück weit zu diesem Außenraum verhält, zu seinen Farben und Formen, zum nahen Siebengebirge sogar.
Wir jedenfalls hatten für einige Zeit einen ganz anderen Blick auf die umgebende Natur, eine Art Erweckungs-Erlebnis im ganz, ganz Kleinen. Noch so eine Sensation.
„Symmetrien des Sachten“ heißt die Schau in Remagen. Benannt ist sie nach einem Gedicht, das Marion Poschmann dem Werk Christiane Löhrs gewidmet hat. Wir mögen das Gedicht nicht sonderlich, aber natürlich kann man sich Bildhauerei auch vom Poetischen statt vom Platonischen her nähern.
Dann wäre Michelangelos Kunst ganz klar Sonett. Aber für die einmalige Gebundenheit von Löhrs freiem Versmaß, für dieses erfrorene, bisher nicht gehörte Rascheln, dieses starke Zarte, für all diese wehrhaften Schutzlosigkeiten müsste ein Begriff erst noch erfunden werden.
Vielleicht versuchen wir das beim nächsten Mal sprachlich herauszumeißeln. Momentan fehlt uns hierzu noch die passende Idee. (17.12.2023)
Anmerkung, zur Sicherheit: Doch doch: Der gar nicht mal so feine Unterschied zwischen Skulptur und Plastik ist uns bekannt. Tut bei unserer Diagnose hier aber nichts zur Sache.
„Christiane Löhr. Symmetrien des Sachten“ ist noch bis zum 21. Januar 2024 im Arp Museum Bahnhof Rolandseck in Remagen zu sehen. Wie gesagt: Chance nicht entgehen lassen!
Was wir sonst noch zu Christiane Löhr zu sagen hätten, haben wir schon 2018 gesagt:
Dom aus Gras. Christiane Löhrs lyrische Skulpturen
Das Arp Museum in der KunstArztPraxis:
Die Haut der Seele: Berlinde De Bruyckere in Remagen
Stella Hamberg: Kraft und Sinnlichkeit
Überall Tatoos: Franziska Nast in Remagen
Freiheit durch Weglassen: Rodin und Arp in Remagen
Wir sind geheilt! “Goldene Zeiten” in Remagen
Paula Modersohn-Becker in Remagen: Frau = Birke
Warum überflüssig? “Luxus und Glamour” in Remagen
Homepage des Arp Museums Bahnhof Rolandseck
Homepage von Christiane Löhr
Darf ich sagen, dass Ihr die Tollsten seid? Ich habe im ganzen Netz noch nie so phantastische Texte und so phantastische Photos gesehen. Danke! Lucie
Antwort KunstArztPraxis: Wow. Danke, Lucie! Wir machen das wegen Leser*innen und Schauer*innen wie Ihnen. Wundervoll. Ihre KunstArztPraxis.
Sehr schön. Gute Arbeiten gute Texte.
Wie kann man nur so großartig schreiben.
1.000 Dank für diesen wundervollen Artikel!!! Und die Fotos sind auch klasse. Wieder mal.
Ihre Bea D.