Katja Novitskova: Die glücksberaubten Pinguine
Wie sehen wir die Welt durch Bilder? Und welche Werte laden wir der Wirklichkeit durch sie auf? Das sind zentrale Fragen im Werk von Katja Novitskova. Das Museum für Gegenwartskunst (MGK) widmet ihr eine große Schau. Wir konzentrieren uns ob der Fülle auf zwei Pinguine.
Disclaimer: In diesem Beitrag verwandeln sich zwei glückliche Kaiserpinguine allmählich in eine siamesische Zombie-Möwe. Sollten wir durch die damit verbundenen Fotos Gefühle von Gattungen verletzen, wird uns das noch leidtun.
Das Leben der Tiere ist ein permanentes Drama. Unentwegt passiert Spektakuläres: die große Liebe, das große Fressen, der große Tod. Dazwischen wird zwar kurz mal aufgegähnt oder eingeschlafen, aber auch dies ist dann immer der Inbegriff perfekter Friedlichkeit in einer stets herrlichen Landschaft aus Technicolor.
Im Tierfilm und -foto sind Tiere eine Art Menschen in Extremen: Sie sind grausamer als die Kannibalen, aber auch romantischer als Caspar David Friedrich, treuer als Penelope und zärtlicher als Romeo & Julia. Und dazu sind sie auch noch süßer als ein Kinder Pingui.
Nimm das, Shakespeare!
Eines der schönsten Beweisfotos für letztere Aspekte – Treue, Zärtlichkeit und Süße – stammt von Mike Hill. Es zeigt zwei Kaiserpinguine, deren Körper sich mit ihren symmetrischen Konturen wie ein von Händen geformtes Herz schützend um ihr Junges schmiegen.
Das Junge schaut uns dabei direkt in die waidwunde Seele. Nimm das, William Shakespeare!
So nämlich geht Liebe, die in Familie endet. Wobei wir hier von wahrer Liebe im Sinne von “Notting Hill” und glücklicher Familie im Sinne von “Anna Karenina” sprechen, also von ewigem Happy End at end. Hach.
Wir schließen kurz die Augen und träumen uns zum Südpol. Lebte nicht jeder von uns gerne so harmonisch wie diese antarktischen Nachfahren der Raptoren, die wir hier der Einfachheit halber tatsächlich einmal Romeo und Julia nennen wollen?
Schlechter Sex, Ehebruch und Rache
Wen kümmert’s da, dass der Sex zwischen Romeo und Julia garantiert eher frostig-mechanisch ausfiel? Dass Romeo Julia vermutlich schon während der Schwangerschaft mehrfach betrogen hat? Und dass Julia Romeo erstmal aus Rache mit – und auf! – der Brut sitzen ließ?
Dass sich die Eltern kurz nach der Aufnahme Hills wohl neue Partner suchten, mit denen dann das gleiche Spiel von vorn begann, wollen wir erst gar nicht erwähnen. Und die kräftezehrende Langeweile während des Brütens – 60 Tage in der eisigen Kälte einer trostlosen Umgebung! – auch nicht.
Wir träumen uns lieber in das von Mike Hill übermittelte Bild, das wir aus diversen Zeitschriften ebenso kennen wie aus dem World Wide Web.
Und in neuer Form von der estnische Künstlerin Katja Novitskova. Sie hat Hills Foto wie bei den meisten ihrer Arbeiten aus dem Netz gefischt und mit abgesägtem Unterleib in eine überlebensgroße Skulptur aus bedrucktem Aluminium verwandelt.
Nur, dass bei “Approximation I” (2012) statt der geliebten Brut eine Leerstelle geblieben ist, die auch als Schnittstelle zwischen dem Kunstwerk und unserem eigenen Denken firmieren kann.
Diese Leerstelle macht deutlich, dass das, was wir auf dem Vogelfoto untrüglich an Stolz & Glück zu erkennen vermeinen, vielleicht so gar nicht vorhanden ist. Und dass die ökonomischen und ökologischen, die politischen und – vor allem auch – emotionalen Werte, die wir dem Pferd, der Spinne, dem Pinguin oder dem Flamingo über die Bilder zuschreiben, so absurd sein könnten wie die von Novitskova immer wieder gern herbeizitierten Wachstumskurven-Kapriolen des Finanz- oder auch Kunstmarkts.
Im Übrigen schauen die beiden Pinguine bei Novitskova unendlich traurig aus.
Nicht nur liebes-, sondern nachtblind
Wenn man um Novitskovas Skulptur herumgeht, entpuppt sich das Gesehene ohnehin als Staffage. Sie ist bewusst so platt – und damit eigentlich auch so durchschaubar – wie die seriellen Bilder, die wir von den Tieren haben. Oder so leer wie die weißen Augenhöhlen sich im Mondschein (?) küssender (?) Rehe, die auf Wildkamera-Fotos für uns nicht nur liebes-, sondern auch nachtblind geworden sind.
Noch so ein von Novitskova im Netz gefundenes und in der Siegener Schau vielfach – und in sehr unterschiedlicher Weise – zu Kunst weiterverarbeitetes Motiv.
Dabei ist auch das natürlich nicht wahr. Die abgelichteten Tiere sind nicht blind. Sie schauen ja zurück, die Welt blickt uns genauso an wie wir auf sie. Jeder, der einen Hund hat, weiß, dass er unter permanenter Überwachung steht. Warum sollte das bei der Hyäne anders sein?
Es gibt sie, die “Augen der Welt”, die der Schau in Siegen den Namen gaben. Wir können sie nur nicht sehen, da steht ein künstlicher Blitz zwischen uns und ihnen. Wie diese Augen schauen, wissen wir nicht. Sie sind die große Leerstelle, wie das fehlende Süße bei Novitskovas Pinguinen. Auch deshalb schauen die Pinguine bei ihr vermutlich auf nichts.
Die zweiten Augen der Welt
Wir hingegen blicken auf die Welt ohnehin eher mit den technischen Augen der Welt, die der Schau in Siegen ebenfalls den Namen gaben. Den Fotoapparaten, den Filmkameras. Oder den Sonden und Robotern, die uns sogar das Unsichtbare: fremde Planeten etwa, übermitteln.
Wobei die Datenströme derart realistisch überarbeitet werden, dass wir glauben: Genau so schaut’s aus auf dem Mars.
Die neuesten Welten-Augen, die für uns sehen, sind die Augen der KI. Novitskova hat ihre Algorithmen auf die Kaiserpinguine von Mike Hill blicken lassen, genauer: auf Bilder ihrer Bilder der Bilder von den kinderlos gemachten Kaiserpinguinen, so vielschichtig und kompliziert ist es im Grunde ja. Und sie hat den Bildern damit einen Abstraktionsgrad gegeben, den der Mensch dem Tier zu geben niemals imstande wäre.
Und wie sieht die KI die Bilder der Tiere, als Maschine ohne Hang zur Vermenschlichung, zu emotionaler Wertigkeit und Projektion? Hm. Irgendwie noch menschlicher als der Mensch, in unseren Augen. Und irgendwie dann doch auch wieder nicht.
Zu Ende generiertes Schnäbeln
Denn der Algorithmus lässt die Schnäbel von etwas, das einmal Katja Novitskovas Kunst-Version von Mike Hills glücklichen Doku-Kaiserpinguinen gewesen sein soll, in “Approximation (Looking Glas Birds of Paradise)” (2023), der aktuellsten Arbeit der Schau, zärtlich (?) züngelnd (?) miteinander verschmelzen.
Allerdings sehen die Kaiserpinguine nun aus wie eine siamesische Zombie-Möwe. Und das ist ein Bild, das zumindest in unserem Portfolio vermenschlichter Tier-Ansichten trotz Hitchcocks Vögeln bisher komplett fehlte.
Womit auch die Frage geklärt ist, ob ein KI-generiertes Bild ähnliche Emotionen in uns auslösen kann wie ein generiertes aus der Wirklichkeit. In diesem Fall: nein. Wohl eher noch nicht.
Und jetzt noch zu etwas völlig anderem: Wie schon gesagt, überführt Katja Novitskova Internet-Fotos in physisch sehr präsente Cut-Out-Skulpturen, die man umrunden kann & sollte. Im Grunde gibt sie Bildern Bühnen. Wir hingegen überführen Katja Novitskovas Skulpturen mit unseren Fotos zurück in jene Nullen und Einsen, denen sie entwachsen sind und bei denen man sich beim Versuch der Umrundung am Bildschirm die Nase stoßen würde.
Deshalb sehen sich Mike Hills Kaiserpinguine und Kaja Novitskovas Skulptur auf den Fotos oben so ähnlich – was sie realiter nicht sind. Das tut uns leid, liegt aber leider in der Natur der Sache.
Es hilft also nichts
Es hilft also nichts: Sie müssen zum Umrunden selbst nach Siegen! Zumal es dort noch viel mehr zu sehen gibt als Kaiserpinguine. Novitskovas gottesanbeterische Babyschaukeln zum Beispiel. In einem Raum, der Einem die Augen übergehen lässt. Darüber schreiben wir vielleicht später nochmal was.
Dies hier ist lediglich ein Rezept zur eigenen Rezeption. Es will eigentlich nur sagen: Hingehen lohnt sich sehr. Und einfach mal schauen, was die Skulpturen der Bilder so mit Ihnen machen. (08.10.2023)
“Katja Novitskova. Augen der Welt” ist noch bis zum 14. Januar 2024 im Museum für Gegenwartskunst (MGK) in Siegen zu sehen.
Anmerkung 1: Ja, es gibt auch monogame Pinguine. Aber Kaiserpinguine sind eben Romeo & Julia.
Anmerkung 2: Dochdoch, wir wissen, wie “Anna Karenina” endet. Wir hatten entgegen unserer Gewohnheit nur kurz das Ironie-Lämpchen auf.
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