Kein Pferdefuß? Lena Henke im Marta Herford
Auf „Good Year„ sind wir schon ein bisschen mächtig stolz: Ohne uns hätte es die Ausstellung nämlich gar nicht gegeben. Die Schau gehört zum Marta Preis 2023 – und für den haben WIR Lena Henke vorgeschlagen! Dafür, dass ihr das Ganze dann so grandios gelungen ist, können wir aber nichts.
Als uns das Marta vor rund zwei Jahren fragte, ob wir nicht Lust hätten, als Teil einer Findungskommission zwei Künstler*innen für den Marta Preis der Wemhöner-Stiftung 2023 vorzuschlagen, verfielen wir sofort in Schmeichelpanik:
Wir fühlten uns geehrt und überfordert zugleich.
Schließlich ist die mit 25.000 Euro dotierte Auszeichnung keine Feld-Wald-und-Wiesen-Ehrung. Und wir waren preisvergabetechnisch nunmal Dilettanten.
Klar: Schmeichel sticht Panik!
Wir sagten natürlich trotzdem zu, schlossen unsere Praxis-Tore und fuhren übers Wochenende mit quietschenden Reifen erstmal zu unserem Lieblingsbauern ins Bergische: Bei kniffligen Entscheidungen ziehen wir frische Landluft urbanen Klinikdünsten vor.
Im Gepäck hatten wir eine Liste jener Künstler*innen, die schon im Bestand des Marta waren: Schließlich war im Preis neben einer Einzelausstellung auch die Entwicklung eines neuen Kunstwerks fürs Museum inbegriffen.
Unsere Vorschläge mussten also gut zu jener tollen Sammlung passen, die wir auch schon im Depot besuchen durften. Sie sollten ihr eine überraschend neue Perspektive geben, den Fokus ohne Sprengung sanft, aber konsequent erweitern, das war der Plan. Nicht wirklich einfach, denn eine gute Sammlung hat ja immer eine recht komplexe Psyche.
Es war ein schöner innerer Disput
Es roch nach Schaf, Heu und Diesel, als wir im Bergischen in uns gingen. Ein paar jriterien hatte das Museum vorgegeben, wir hatten ein paar eigene. Wir warfen uns gegenseitig Namen und Argumente an die Köpfe, versuchten mit dem Knie zu denken, befragten mit den Hirnen unsere Bäuche, während draußen Schafe und Traktoren mähten. Es war ein schöner innerer Disput.
Am Ende blieben von den fünf, sechs Namen nur Alicja Kwade und Lena Henke übrig.
Was wir an Alicja Kwade schätzen, haben wir an anderen Stellen bereits hinlänglich beschrieben. An Lena Henke schätzen wir seit vielen Jahren, dass sie für ihre Kunst in Archive steigt, Bücher wälzt, mit Menschen spricht. Dass sie Soziologie und Architektur ebenso mit einbezieht wie Kindheits-, Kunst- & Designgeschichte. Dass sie in Stadt & Land denkt und in Mann & Frau.
Dass sie klar & stringent ist. Uns in Vielem ähnlich und in Vielem fremd. Dass das, was dann an Kunst herauskommt, Museumsreife hat und Relevanz. Und dass es sich mit Worten wie den obigen nicht einmal annähernd beschreiben lässt.
Und dann trauten wir Lena Henke auch noch zu, auf Länge & Tiefe der Lippold-Galerie im Marta raumspezifisch adäquat zu reagieren. Auch sowas muss man erstmal können.
Natürlich grundlos!
Dass sich die Jury unter den zehn Kommissionsvorschlägen dann tatsächlich für unseren entschied, ist längst Kunstgeschichte. Uns versetzte die frohe Botschaft damals sofort in Beglückungsfurcht.
Was, wenn das Kunstwerk, was, wenn die Ausstellung Lena Henkes den Erwartungen nicht entsprach? Wir waren doch tatsächlich etwas aufgeregt. War das denn nicht auch ein klitzekleines Bisschen unsere Schau? Trugen wir nicht ein Quäntchen Verantwortung für das neue Werk der Marta-Sammlung?
Es klingt im Nachhinein doch arg vermessen, aber damals haben wir – natürlich grundlos! – wirklich kurz so gedacht.
Warum grundlos?
Es roch nach Pferd, Stroh und Gummi, als wir zur Preisverleihung nebst Ausstellungseröffnung ins Marta gingen. Da hatten wir noch nichts gesehen, aber wir wussten sofort: Wir hatten bei Lena Henke den richtigen Riecher gehabt. Und Lena Henke hatte alles richtig gemacht. Denn so nach Pferd, Stroh und Gummi hatte es im Museum sicher noch nie gerochen.
Der neue Marta-Duft entströmte dem neuen Sammlungs-Zuwachs: Einem schwarzen Emaille-Kochtopf auf einem weißen Sockel vorm Eingang zur Lippold-Galerie.
Lena Henke hat ihn gemeinsam mit einem Kölner Parfümeur nach den Gerüchen ihrer Kindheit im westfälischen Warburg entworfen, aber er kommt auch dem olfaktorischen Dreiklang unserer eigenen Kindheit (Kuh – Wiese – Bratfett) empfindlich nahe.
Bild: Lena Henke vor der Preisverleihung, Marta Herford, 2023
Bisher hatten wir Lena Henke vor allem mit dem Pferdefuß verbunden. Den kannten wir als Totem, Fetisch, Holzbein oder Autorad-Ersatz, in Plastik und Metall – sowie als ihre Lösung des Bildhauerei-Problems der Trennung von Skulptur und Sockel.
In Henkes Schau „My Fetish Years“ im MGK Siegen 2019 erdeten je zwei Exemplare davon übermannshohe, lederbezogene, mittels Riemen deckenfixierte Reiter*innenbeine-Bögen.
Mit dieser Verbindung im Rücken kam es uns deshalb beim Entree ins Marta so vor, als hätte sich der omnipräsente Pferdefuß samt Gummi in Duft aufgelöst und nun den kompletten Museumskörper in eine Erinnerungs-Küche schockgefroren.
Seit diesem strengen Madeleine-Erlebnis kriegen wir Henkes raumgreifende Straßenstallgeruchs-Skulptur trotz urbaner Klinikdünste nicht mehr richtig aus den Nasen.
Die coole Küche für den Reifen Mann
Wobei der Gummi-Duft und der Emaille-Kochtopf auch ein Vorgeschmack waren auf das, was uns in der Lippold-Galerie dahinter erwartete: vor allem eine riesige Skulptur mit rund 2.000 von einer Presse zusammengedrückten und nun von Seilen vorm Explodieren bewahrten Autoreifen-Kuben in einer an die „Küche für den Mann“ gemahnenden Regal-Konstruktion.
Die von Henke angemahnte Küche hatte die Herforder Firma Poggenpohl mit Carbon, Aluminium und grifflosen Elektro-Türen unter dem Männer emotional aufwühlenden Namen „P’7340“ zusammen mit Porsche-Design 2014 entwickelt. Mehr Bezug zu Raum und Stadt und Geschlechterrolle geht wohl kaum.
All das muss man selbst gesehen und gerochen haben. Denn, wie auch schon gesagt: Zum Glück ist Lena Henkes Kunst mit Worten nichtmals annähernd beschreibbar. Und unsere Kamera hat nicht nur keine Beine oder keine Hüfte, sondern auch noch keine Nase.
Einfach in die Durchreiche gucken!
Wir sind beglückt, denn in Herford ist wieder alles da: die Soziologie & die Architektur; die Kindheits-, Kunst- & Designgeschichte; Stadt & Land; Mann & Frau. Und Henkes Pferdefuß gibt es natürlich auch – diesmal jedoch eher ungeerdet und in einer mit Privatheit ummantelten Form. Man muss ihn auch ein wenig suchen.
Kleiner Tipp: Der Pferdefuß ist Teil einer Skulptur der kleinen, damals auf dem Lande und heute in New York lebenden Lena Henke mit dem Chrysler-Building als Holzbein! Und man muss zwingend ins Wandloch einer stilisierten Küchendurchreiche gucken.
Was bleibt noch zu sagen? Vielleicht, dass Lena Henke es auf sehr originelle Art und Weise geschafft hat, der Länge & Tiefe der Lippold-Galerie Herrin zu werden? Dank einer variablen Installation von 2020, die nicht nur die anderen Arbeiten buchstäblich überspannt, sondern auch ein höchst ironisches Symbolbild kleinfamiliärer Idyllik ist.
Mit einem Strommast als energischem Vater und einer Wäschespinne als häuslicher Mutter! Besonders Letzteres ist assoziativ phantastisch.
Und dann passt der riechende Kochtopf auch noch perfekt in ein neues Ausstellungs-Konzept des Marta, das ganz offensichtlich weg will von einer Kunst nur für die Augen.
Die nächste Gruppenausstellung „Long Gone, Still Here“ (05.11.2023-25.02.2024) jedenfalls versteht sich laut Museum als „Teil der programmatischen Neuausrichtung, sich künftig als Ort synästhetischer Erfahrung zu positionieren“. Wie gesagt: Alles richtig gemacht.
Es war eine würdige Preisverleihung
Ach ja: Es war eine würdige Preisverleihung. Es gab gute Reden und guten Wein und eine gute Mucke. Und es wurde mehr Porzellan zerschlagen als beim Polterabend auf einem westfälischen Reitergut oder einem bergischen Bauernhof. Fürs Sauerland wollen wir unsere Hände dazu allerdings nicht ins Feuer legen.
Wir hatten jedenfalls allen Grund, uns im Marta rundum heimisch zu fühlen. Die unangenehmen Partien der Schmeichelpanik und der Beglückungsfurcht hätten wir uns jedenfalls echt sparen können.
Und das Werk Alicja Kwades ist in der Höhe & Breite der Langen Foundation oder des Lehmbruck Museums ja vielleicht ohnehin besser aufgehoben. (29.10.2023)
„Lena Henke: Good Year. Marta-Preis der Wemhöner Stiftung“ ist noch bis zum 7. Januar 2024 in der Lippold-Galerie des Marta in Herford zu sehen. Der Katalog wird am 12. November 2023 im Marta präsentiert. Lena Henke will hierzu extra aus New York nach Ostwestfalen kommen.
Anmerkung: In unserem Beitrag zu Cornelius Völker haben wir uns sehr über das Wort „Galeristenware“ echauffiert. „Museumsreife“ hingegen wird von uns rundherum akzeptiert.
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Homepage des Marta Herford
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