Mary Bauermeister: Abschied vom Märchenreich
Sechs Monate nach dem Tod von Mary Bauermeister waren wir nochmal in ihrem Märchenreich. Wir wollten noch einmal eintauchen in eine Welt, die uns in den letzten Jahren so wichtig geworden war. Aber wir trafen diese Welt nicht mehr an. Sie war schon versunken. Ein Abschied in 90 Bildern.
Gab es früher Stimmen in Mary Bauermeisters Garten? War da jemals Lärm, oder Musik? Wir können uns beim besten Willen nicht daran erinnern. Zum Zauber dieses Ortes gehörte für uns immer auch die Stille. Selbst die Vögel hielten hier den Atem an.
Jetzt ist da Krach. Beim Eintritt ins Märchenreich brüllt uns überlaut Schlager entgegen. Dann hören wir plötzlich Stimmen.
Die Stimmen erzählen von Drohnen über Kiew, einem US-Präsidenten im Gefängnis, dem antisemitischen Flugblatt eines Wirtschaftsministers, einem übergriffigen Verbandschef im Frauenfußball. Männliche Zeitgeschichte bricht in diesen einst zeitlosen, weiblichen Ort.
Die Stimmen kommen aus einem Radio neben zwei kleinen Baggern hinter Mary Bauermeisters Werkstatt. Die Baggerführer machen Pause: Das Radio muss so dröhnen, weil sie Hörschutz-Kopfhörer tragen. Wir können das sehen, denn da, wo früher ein Turm stand, klafft jetzt ein Loch.
Später erfahren wir, dass Mary Bauermeister ihr Märchenreich in die Nachbargrundstücke hat herüberwuchern lassen. Ein halbes Jahr nach ihrem Tod ist fast alles auf den Stand amtlicher Grundbuch-Einträge zurückgebaut.
Die beiden Baggerführer bessern nur noch rüttelnd und glättend nach.
Als wir nach rechts blicken, lehnt da ein Trupp weißer Männer an einer Bank. Sie sind wie Domino-Steine umgekippt: Die Bank hat sie in ihrer Leichenstarre aufgefangen. Ein Kinn und ein Hals sind abgebrochen. Unter den Männern fährt ein gelb-rotes Schiff.
Wir erinnern uns an frühere Besuche: Da standen die Männer stolz oben im Turm, der nicht mehr da ist, und spähten auf die Welt hinunter wie aus einem Krähennest.
Und das Schiff hatte einmal in einem maroden Holzfass auf einem Sandmeer seinen Hafen – zusammen mit einem Kinderstuhl und einem LKW. Aber da waren Mary Bauermeisters Enkel noch ganz klein. Das ist viel länger her.
Nicht nur der Turm ist gefallen
Nicht nur der Turm ist gefallen. Auch Mary Bauermeisters schützender Bambuswald ist gerodet. Von hier sickert ebenfalls Außenwelt ins Zauberhafte ein. Die aus dem Wald vertriebenen Skulpturen stehen wie geschlagene Schachfiguren einsam auf dem Rasen.
Und: Ein vom legendären Circus Roncalli abgekaufter Zirkuswagen ist nach vorne geschoben und steht nun in absurder Reihung da. Er hat sich, wie wir später erfahren, lange gewehrt: mehrere Stunden lang, mit in Jahrzehnten tief in den Boden gegrabenen Rädern als Verteidigungs-Taktik.
Es soll ein zähes Ringen gewesen sein. Am Ende hat es nichts genützt.
Und: Die Birke ist gestorben. Die Birke ist gestorben! Man musste ihr die Äste amputieren, das Moos zerfrisst das Aas der Rinde. Der Steinturm, den Mary Bauermeister nach ihrem Sturz errichten ließ, um den Stamm zu stützen, trägt nurmehr sinnlos einen Stumpf.
Natürlich hätten wir uns das denken können: Jetzt, wo niemand mehr da war, die Birke zu pflegen. Es ist trotzdem ein Schock.
Das Märchenreich ist jetzt ein Dschungel
Das Märchenreich ist jetzt ein Dschungel. Da, wo vermutlich immer noch Mary Bauermeisters erste Grabsteine liegen, wuchern jetzt die Brombeeren.
Die Maulwürfe haben Boden gut gemacht, auch auf den Wegen. Die Schädel der Hirsche sind mit dem Efeu vermählt. Im kahlen Baum hängt eine Hand.
Ein paar Wächter stehen im Dickicht auf verlorenem Posten. Was sie zu bewachen glauben, im ewigen Kampf gegen die Entropie, ist aber fast verschwunden.
Und am Sechzehn-Ender zwischen Koffer und Stuhl baumelt einer jener Hörschutz-Kopfhörer, von denen auch wir gerne welche hätten. Die Bagger im Turm-Loch rütteln und glätten nämlich immer noch.
Der Erwürge-Engel
In die Hütten und Zirkuswagen gehen wir nicht, auch nicht ins Haus, aber wir spähen durch die Fenster. Den Engel in der Phoenix-Hütte würgt ein Kabel. Das ist das Erste, was uns von Drinnen ins Auge springt.
Ein anderer Engel trägt noch immer den Stumpf einer Kerze, wie schon vor Jahren. Aber der Kerzenstumpf im Heil-Haus ist auf seinem Ständer auseinander gebrochen. Vis-à-vis schaut der Punker mit dem Mönch durch die Scheibe nicht mehr auf Büsche, sondern aufs freie Feld.
In der Weite dieses neuen Blickes grasen draußen die Pferde. Während drinnen ein Esel traurig auf seinem Bett sitzt und wartet.
Plötzlich beginnt es über dem Märchenreich zu blitzen und zu donnern. Das Gewitter will uns offenbar endgültig vertreiben. Das Gewitter hat Recht: Wir sollten gehen.
Wie oft sind wir hier gewesen
Wie oft sind wir hier gewesen, um unsere Augen übergehen und unsere Seelen gesund machen zu lassen. Wir haben das beschrieben, auch unsere Desillusionierung auf Mary Bauermeisters Beerdigung.
Dieser Abschied vom Märchenreich, diese teilweise Entzauberung im Lärm der Bagger, der Zeitgeschichte, die eingedrungenen Alltäglichkeiten, ist nur das logische Ende.
Was uns bleiben wird, sind Bilder. (10.09.2023)
Mary Bauermeister in der KunstArztPraxis:
Mary Bauermeister: Begräbnis mit Feldsalat
Ebenen gewechselt. Zum Tod von Mary Bauermeister
Im Märchenreich: Zu Gast bei Mary Bauermeister
Jetzt sitze ich da und weine…,obwohl ich diesen Garten und das Haus „nur“ von Fotos kannte und frage mich, wie man diese einmalige Welt tatsächlich zerstören kann!!! Es ist unfassbar. Es bleibt nur Trauer und Fassungslosigkeit…Wer so eine Abrissgeschichte tatsächlich veranlasst, hat keinen ästhetischen Sinn, dem oder der sind künstlerische und individuelle Lebensgeschichten und ihre Erzählkraft egal. Es handelt sich um ein künstlerisches Gesamtwerk und man zerstört es allen Ernstes wegen Grundstücksgrenzen?
Warum muss immer alles zerstört werden, was nicht in die „Schublade“ passt? Ich bin erschüttert. Uschi Hendrich
Antwort KunstArztPraxis: Wir können ihre Tränen nicht trocknen. Wir können als Trost nur sagen, dass noch vieles steht. Wie lange, wissen wir nicht. Aber offenbar die nächsten Jahre schon. Was danach ist, steht in den Sternen. Herzlichen Dank. Ihre KunstArztPraxis.
Danke für die Einblicke in den so vertrauten einzigartigen Garten – das Gesamtkunstwerk von Mary geschaffen:
Auch in Reichshof Oberagger hatte Mary Bauermeister die Hoffnung, das etwas bestehen bleibt von dem, was sie aufgebaut hat.
Ihr Wirken war Bereicherung für viele Menschen – hoffentlich bleiben noch Spuren von dem, was sie auch dort in der Natur geschaffen hat.
Es lohnt sich, auf Spurensuche zu gehen!
Mit den eigenen Händen Brot formend, gemeinschaftliches Essen am Kamin und Austausch über das, was wirklich bleibt – auch über den Tod hinaus – war Teil ihrer Sozial-Kunst
im Oberbergischen, ebenso wie die Verknüpfung eigener Kunst und Förderung junger Künstler.
20191019-kunstsonntag.pdf (kunstkabinetthespert.de)
Die Gesprächsnachmittage mit Lebensrückblicken im Kunst Kabinett Hespert – verwoben mit der Sammlung Ihrer eigenen Kunstwerke – waren unbeschreiblich persönlich und ehrlich.
Ein paar Eindrücke hier in Fotos: KUNST KABINETT HESPERT :: KUNSTSONNTAGE –
Auf Bild 2 von 6 zeigt Mary auf naive Malerei – eine Darstellung ihrer Vorstellung der „unfassbaren Welt“ die uns umgibt – getrost war sie, dass wir uns alle wieder sehen.
Kreativität geht nie veloren.
Danke für die journalischen – wenn auch schockierenden Fotos der Veränderungen in Marys Garten.
J.Pütz
Antwort KunstArztPraxis: Herzlichen Dank für den schönen Kommentar. Er hat uns wieder in Erinnerung gebracht, dass wir vor Jahren (und vor dem Brand) auch in Mary Bauermeisters Atelier in Oberagger Fotos gemacht haben. Vielleicht bringen wir die auch irgendwann noch einmal.
Sehr schöne Dokumentation. Mir war freilich gar nicht klar, dass, zumal bei den vielen berühmten Gärtnern des 18.-22.Jahrhunderts, der Garten eine „weibliche Welt“ ist. D.h. dann wohl, Schwerter zu Pflugscharen!
Antwort KunstArztPraxis: Vielen Dank! Offen gestanden wissen wir sehr wenig über das Geschlecht des Gartens. Vermutlich kann er es wechseln. Die von uns beschriebene Welt allerdings war eindeutig weiblich.
Ja, Super-Text!
Welch eine berührende Geschichte…