Wie wir der Kunst einmal das Leben retteten
Wir von der KunstArztPraxis heilen ja nicht nur. Manchmal retten wir der Kunst sogar das Leben. Zum Beispiel, wenn sie von der Deutschen Bahn überrollt zu werden droht. Wie im Fall des „Photo-Waggons“ von Peter Sevriens in Meinerzhagen, Unser ganz persönlicher Notarzt-Einsatz.
Vor ein paar Jahren erreichte uns ein Erste-Hilfe-Schrei aus dem Sauerland. Metaphorisch gesprochen kam er aus einem Güterwagen der Deutschen Bundesbahn, den der niederländische Künstler Peter Sevriens mit seinen Sichtbarkeits-Maschinen in einen tollen „Photo-Waggon“ verwandelt hatte.
Dieser „Photo-Waggon“ war das phantastische Reich eines imaginären Lichtbildners, der mit Lok-Antrieb durch die Lande zog, bevor sein Vehikel vorm Bahnhof Meinerzhagen-Valbert zum Stillstand kam:
Wie die Foto-Pioniere des 19. Jahrhunderts mit ihren zu Dunkelkammern umgebauten Pferdewagen – nur eben als Negativ, also blendend ausgeleuchtet.
35 Jahre stand der „Photo-Waggon“ von bürokratischem Zugriff unbehelligt auf einem kurzen Gleisstück, das ungefähr genauso lang war wie er selbst. Den Rest hatte die DB kurz nach dem Stillstand an beiden Seiten komplett weggenommen.

Das Positiv: Mobile Dunkelkammer, hier die des Fotografen Jakob Höflinger, um 1865
Um die zuvor zweigleisige Strecke – sparen, sparen, sparen, AG, AG, AG!* – eingleisig zu machen.
*Erinnert sich noch irgend jemand an
Herrn Mehdorn? Wir hoffen nicht.
Als Blicke eingleisig wurden
2022 dann versperrte Sevriens‘ „Photo-Waggon“ laut Deutscher Bundesbahn plötzlich „in der Sichtfläche des Schienenverkehrs“ den inzwischen längst eingleisigen Blick.
Den Blick eines imaginären Lokführers offenbar, denn die Strecke war schon seit Jahren gar nicht mehr von Schienenverkehr welcherartauchimmer befahren worden.

Das Bonner Eisenbahn-Bundesamt (EBA) gab dem damals 80-jährigen Künstler unverschämte 14 Tage, um sein tonnenschweres Kunstwerk eigenhändig zu entfernen.
Dabei wollte Sevriens seinen „Photo-Waggon“, der in den 1990er Jahren schon auf den „Internationalen Fototagen Herten“ sowie auf der Kölner „photokina“ zu Gast – und inzwischen stark in die Jahre gekommen – war, in Kürze aufwendig restaurieren!

Geld für eine würdige Umsiedlung per Kran war natürlich auch nicht zuhanden. Gute Kunst macht ja nicht reich, nur glücklich! Es drohte also Demontage.
Wir hatten uns schon so gefreut!
Bei unserem ersten Besuch im Kunst-Bahnhof an Joseph Beuys‘ 102. Todestag kurz vorher hatten wir uns einen Blick in den „Photo-Waggon“ wegen Sevriens‘ Restaurierungs-Plänen extra für einen nächsten Besuch aufgespart.
Darauf hatten wir uns schon sehr gefreut.
Dass uns die Bahn diesen aufgesparten Genuss auf derart unverschämte Art & Weise nun vermasseln wollte, fanden wir schon skandalös genug. Alles andere natürlich noch mehr.

Und – Spoiler-Alarm: Da war die Welt schon wieder in Ordnung!
Peter Sevriens 2025 in seinem restaurierten Photo-Waggon
Wir haben ja andernorts viel von der kunstbedrohenden Unsichtbarkeits-Maschine geschrieben – und nun hatte diese Unsichtbarkeits-Maschine auch noch die DB als eine ihrer Klauen! So mailten wir das auch zweifach der Deutschen Bahn. Und drohten zwecks Sichtbarmachung des Skandals mit gnadenlosem Bloggen.
So NICHT, DB Netz AG. SO nicht!
Das EBA verwies auf das Allgemeine Eisenbahngesetz (AEG) für nicht-technisch gesicherte Bahnübergänge (BÜ) und eine „Bahnübergangsschau“ zur „regelrechten Freihaltung nötiger Sichtflächen“. Die DB Netz AG schwieg einfach ganz, sprich: machte einen auf stur.

Also veröffentlichten wir im Februar 2023 in der KunstArztPraxis einen Beitrag, der die Frage aufwarf, ob die DB einen Künstler zwingen dürfe, sein Kunstwerk zu zerstören – bekanntlich die Höchststrafe, die die Unsichtbarkeits-Maschine verhängen kann.
Der Beitrag schlug damals hohe Wellen. Die Lokalpresse wurde aufmerksam, das Fernsehen kam: Flugs war der Skandal auch jenseits unserer kleinen Welt sichtbar geworden.
Das Fernsehen macht den Künstler sichtbar! Auch jenseits unserer kleinen Welt
Neues Umfeld für Diskussionen
Sogar Blogs von Eisenbahn-Fans quollen vor Kommentaren nur so über! Da war von Pro bis Contra alles dabei.
Wir waren bisher ja schon bei so mancher Talkshow zugegen. Aber in einem SOLCHEN Umfeld hatten wir bisher noch keine Diskussionen ausgelöst.
„Der Wagen wurde keineswegs illegal abgestellt, sondern am 10.11.1989 von der Bundesbahn mit Fplo als Sperrfahrt 89089 mit der 332 115 von Oberbrügge nach Valbert gefahren. Einige Wochen später wurden dann die Weichen im Bf Valbert abgebaut.“
Blogger 600 mm
„Schleppkurve“, „Gleisachse“, „Sichtdreieck“
Blogger „600 mm“ zum Beispiel erzählte uns auf drehscheibe-online die ganze Wahrheit. Und Begriffe wie „Schleppkurve“, „Gleisachse“, „BÜ“, „Fplo“, „EBA“ oder „Sichtdreieck“ – welches laut Blogger „Zauberer“ und § 14 Abs. 2 Nr. 2 EBKrG übrigens „zu den Straßenanlagen und nicht zur Eisenbahn“ gehört! – erweiterten unseren Wortschatz ungemein.
Auch dass es sich beim „Photo-Waggon“ um einen „alten gedeckten Güterwagen der Bauart G10“ handelte, hatten wir bis dahin nicht gewusst. Danke, Blogger „Ehemaliger Nutzer“!
„Mich nervt ein bisschen die Einstellung dieses Künstlers und seiner Fans:
Blogger 6429547
[kunstarztpraxis.de]“
Unser auf den Erste Hilfe-Ruf aus Meinerzhagen erfolgter Notarzt-Einsatz zeitigte in dieser medialen Viralität letztendlich Wirkung: Der bürokratische Zugriff zog tatsächlich die Notbremse und stellte wie von uns erhofft die Weichen neu.
Danke also, Bahn & Stadt!
Bahn & Stadt sagten zu, die Kosten für den Umzug der hellen Dunkelkammer zu übernehmen! Im Sommer 2023 war es dann soweit: Mit einem riesigen Kran wurde der „Photo-Waggon“ umgehievt. Weg vom Sichtdreieck. Und ganz ohne Fplo.
Danke dafür, Bahn & Stadt!

Umzugsfotos (3): © Studio Peter Sevriens, ohne VG Bild Kunst 2023


Inzwischen ist der „Photo-Waggon“ aufwendig restauriert und steht in frischer Pracht statt hinter nun neben Peter Sevriens‘ Kunst-Bahnhof. Vor kurzem waren wir endlich staunend drin. Und, ja: Was sollen wir sagen? Wir waren auch ein wenig stolz. Manchmal ist es halt wirklich eine gute Tat, der Kunst das Leben zu retten.
Warum? Wir zeigen einfach einmal 110 gute Gründe. Manchmal sagen Bilder ja bekanntlich mehr als tausend Worte. Voilà:
Bitteschön. Dankeschön. Ihre KunstArztPraxis (23.03.2025)
Der „Photo-Waggon“ von Peter Sevriens kann auf Nachfrage sonntags sogar besichtigt werden – Erklärung inklusive! Wir vermitteln gerne den Kontakt.
Anmerkung 1: Nur der Vollständigkeit halber: Wir haben uns schon einmal über die DB echauffieren müssen: 2022 war das. Damals ging es darum, dass das Kunstmuseum Bonn im Hauptbahnhof der Stadt nicht mit einem Gemälde Maria Lassnigs für deren Ausstellung dort werben durfte. DAMALS sind wir leider nicht so erfolgreich gewesen. Aber damals ging ja auch nur um ein Plakat.
Und: Wir haben der Kunst später noch einmal das Leben gerettet! Aber das ist eine andere Geschichte und soll vielleicht ein andermal erzählt werden.
Anmerkung 2: Nachtrag, 01.04.2025: Dass wir tatsächlich einen Erlebnisaufsatzsatz wie „Im Sommer 2023 war es dann soweit“ geschrieben haben: Dafür schämen wir uns bis heute. Aber wir können es ja nun einmal nicht ungeschehen machen Seufz deshalb. Entschuldigung.
Peter Sevriens in der KunstArztPraxis:
Erste Hilfe: Darf die DB Kunst zerstören?
Joseph Beuys und die Sichtbarkeits-Maschinen
Wie man dem toten Hasen Joseph Beuys erklärt
Unsere Wunderkammer-Serie, in die Peter Sevriens ja auch hineingehört:
In Wunderkammern 1: Helmut Kunkel, Aschaffenburg
In Wunderkammern 2: Eduard Roijen, Düsseldorf
In Wunderkammern 3: Rosa Haus, Hombroich
In Wunderkammern 4a: Hans von Hoermann, Prien
In Wunderkammern 4b: Hans von Hoermann, München
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