Paula Modersohn-Becker in Remagen: Frau = Birke
In einer tollen Tauschaktion konfrontiert das Arp Museum Bahnhof Rolandseck Bilder von Paula Modersohn-Becker aus Bremen mit Werken der eigenen Sammlung. Für uns ein Anlass für Erinnerungen und neue Erkenntnisse. Über die Birke, Selbstporträts, das Bild der Frau – und traurige Träume in Worpswede.
Mitte der Achtzigerjahre reisten wir nach Worpswede. Es ging um eine Frau, das auch. Vor allem aber ging es um die Birke. Wir lieben die Birke, für uns ist sie die Königin der Bäume. In unseren Augen kommt kein anderer Baum ihr an Anmut und Schönheit gleich.
Der Ruf der Birken von Worpswede war ihnen in Form von Kunst vorausgeeilt. Nun wollten wir im Teufelsmoor unter dem unglaublich weiten Himmel des Nordens jene stolzen Bäume sehen, die wir von den Bildern Paula Modersohn-Beckers schon kannten.
Der eigenen Jugend lauschen
Wir kamen im Haus im Schluh unter, bei Heinrich Vogelers schon hoch betagter Tochter Mascha, damals lebte sie noch. In der guten Stube hing ein Gemälde, auf dem sie als Kind im Birkenhain den Vögeln, dem Frühling und der eigenen Jugend lauschte. Ihr Vater hatte es gemalt.
Wir schliefen im sogenannten Rosenzimmer, mit selbstgemachten Möbeln Heinrich Vogelers vom Barkenhoff. Wir erinnern uns an herrliche Gespräche mit Mascha, auch über Kunst im Alltag. An himmlische Betten, an traurige Träume. Und an sehr unbequeme Stühle.
Von der Birke zum Porträt
So wundervoll wir Vogelers Mascha-Porträt in seiner natürlichen Umgebung damals fanden, so ist für uns auch nach der Abfahrt Paula Modersohn-Becker die Malerin der Birke geblieben. Wir verließen Worpswede aber auch mit der Erkenntnis, im Teufelsmoor keine der von ihr gemalten Birken gefunden zu haben.
Denn Paula Modersohns Birken, so hatten wir schließlich begriffen, sind ja keine Bäume, sondern aus Farbe geformte, fast seidene Körper, wie Risse in der Leinwand schwebend vor ihrem grünbraun-erdenschweren Grund. Und in ihrer Wesenheit und stillen Stärke von einer anderen, flächigen und eben nicht mehr vordergründig tiefen Wirklichkeit.
Später brauchten wir noch eine Weile, um unseren Blick auf Modersohn-Beckers Werk von der dominanten Birke weg zu ihren Porträts hin zu öffnen, die ja irgendwie auch Landschaften sind. Zum Frauenporträt, um genau zu sein. Zum Frauenselbstporträt, natürlich. Denn Modersohn-Becker hat ja vor allem sich selbst gemalt.
Die Wirklichkeit der Seele
Im Arp Museum in Remagen hängen nun einige Birken von Modersohn-Becker, die aus dem Norden gekommen sind. Darunter ist ein zauberhafter „Birkenstamm vor Landschaft“, dessen Schatten einem anderen Baum zu gehören scheint. Und es gibt Porträts von Birken und Landschaften von Frauen: unter anderem in einem Raum, der von der Farbgebung her Modersohn-Beckers „Lilienatelier“ in Worpswede nachempfunden ist.
Das ist ein schöner Hinweis darauf, dass der Großteil ihrer teils gegen harsche Kritik konsequent ganz eigenständig komponierten und stilistisch ganz eigenwillig ausgeformten Werke diesen Ort zu Lebzeiten der Künstlerin nie verlassen haben. Bekannt wurde Modersohn-Becker ja erst spät.
Neben einem großartigen Bildnis der Freundin und Konzertpianistin „Lee Hoetger vor Blumengrund“ (1906) ist auch das „Selbstbildnis am 6. Hochzeitstag“ (1906) der Künstlerin mit vorgewölbtem Bauch unter den Werken. In seiner Flächigkeit verweist es auf die andere Tiefe einer Seelenlandschaft. Denn schwanger war Modersohn-Becker damals nicht.
Was uns überrascht hat
„Tausche Monet gegen Modersohn-Becker“ lautet der Untertitel der Schau. Er beschreibt die schöne Idee, Werke der eigenen Sammlung in den Museen Böttcherstraße zu zeigen und umgekehrt. 35 Gemälde, Grafiken und Skulpturen sind aus Bremen an den Rhein gekommen und treten nun mit 20 Highlights aus Kunstkammer Rau in Dialog. 66 Werke sind es insgesamt.
Das alles ist so wunderbar kuratiert, dass uns die Schau die Augen im Hinblick auf Modersohn-Becker ein zweites Mal geöffnet hat. Denn in Remagen kann man auch auf jene Künstler blicken, die die Künstlerin genauso wie die Birken von Worpswede beeinflusst haben: auf Maurice Denis und Paul Cézanne, aber auch auf Lucas Cranach und Tilmann Riemenschneider.
Das hat uns sehr stark überrascht. Und ist in Remagen durch die klärende Hängung in vielen Fällen dermaßen offensichtlich, dass auch ohne weitere Informationen keine Zweifel bleiben.
Und noch etwas haben wir in der Ausstellung gelernt: dass sie Natürlichkeiten von Mensch und Landschaft – im Grunde: von Frau und Birke – für Modersohn-Becker auf eine für uns noch nicht ganz entschlüsselte Art und Weise zwei Seiten derselben Medaille sind. Das kann man zum Beispiel am „Mädchen am Birkenstamm vor Kornfeld“ (1904) studieren, auf dem das Kind den Baum wie einen stützenden Freund umarmt.
Das macht aber schon der Ausstellungstitel „Das sind meine modernen Frauen“ klar, der einer Notiz der Künstlerin in ihrem Tagebuch entnommen ist. Dort sind die Birken Worpswedes „die zarten, schlanken Jungfrauen, die das Auge erfassen“ – und zwar „mit jener schlappen, träumerischen Grazie, als ob ihnen das Leben noch nicht aufgegangen sei“.
Einige der Birken aber seien „schon ganz männlich, kühn, mit starkem, geradem, knorrigem Stamm“, heißt es im Text von 1897: „Das sind meine modernen Frauen.“
Wer malte welche Birken?
Mit unseren Erlebnissen in Worpswede und der Ausstellung in Remagen im Rücken scheint es uns nun so, als habe Heinrich Vogeler vor allem die zarten, schlanken, jungfräulichen Birken gemalt und Modersohn-Becker vor allem auch die kühnen, starken. Ob das stimmt, werden wir noch überprüfen.
Vielleicht sollten wir dazu noch einmal nach Worpswede fahren. Ins Haus im Schluh, das Gästen immer noch offen steht, ins Rosenzimmer, das es noch gibt. Vielleicht würden wir diesmal sogar besser schlafen. (21.03.2022)
„Das sind meine modernen Frauen. Tausche Monet gegen Modersohn-Becker“ ist noch bis zum 4. September 2022 im Arp Museum in Remagen zu sehen.
Anmerkung: Es gibt eine zauberhafte Skulptur in der Ausstellung, das vorwegnimmt, was in Remagen bald kommen wird: „Inge“ von Berlinde De Bruyckere, Das Arp Museum wird der belgischen Künstlerin ab dem 3. Juli 2022 eine Einzelausstellung widmen. Darauf freuen wir uns schon sehr. Und werden berichten.
Appendix: Wie man die Birken auch noch sehen kann
Wir können Heinrich Vogelers Blick auf die Birke verstehen, auch den von Paula Modersohn Becker. Und natürlich gibt es noch tausend andere Sichten auf den Baum. Die Birke ist ja nicht nur schön, sondern im Anblick auch ungemein wandelbar.
Einer von uns zum Beispiel wollte wissen, wie Rocco Pagel auf die Birke blickt. Pagel ist ein viel zu unbekannter Maler aus Berlin, vielleicht ebenso unbekannt, wie Modersohn-Becker zu Lebzeiten war. Jedenfalls ein ganz Großer, wie wir alle in der KunstArztPraxis finden.
Besagter einer von uns hat ein Birkenbild bei Rocco Pagel in Auftrag gegeben. Und weil Rocco Pagel Rocco Pagel ist und nicht Heinrich Vogeler oder Paula Modersohn-Becker, ist er nicht nach Worpswede gereist, um die Birke zu studieren, sondern in die rauen Wälder von Polen. Genauer: an die Ostsee, nach Kołobrzeg (Kolberg) in Westpommern.
„Birken (Der Dieb von Kolberg)“ hat Rocco Pagel sein Bild genannt, und wenn man genau hinschaut, kann man den Dieb (wie so manches andere) im See entdecken. Vor allem aber kann man sehen, dass man die Königin der Bäume tatsächlich ganz anders malen kann: Im schmutzigen, matschigen Teil des Winters, wurzellos schwebend über den gefrorenen Wassern, vor klirrendem Himmel. Ohne Unschuld, ohne Stärke, hart und blattlos im gespenstischern Weiß.
Auch Rocco Pagels Birken lieben wir sehr.
Das Arp Museum in der KunstArztPraxis:
Freiheit durch Weglassen: Rodin und Arp in Remagen
Stella Hamberg: Kraft und Sinnlichkeit
Warum überflüssig? „Luxus und Glamour“ in Remagen
Kunst-Anamnesen in der KunstArztPraxis:
Gegen.Bilder.Terror, 1989: Richters „18. Oktober 1977„
Lebenslanges Türenöffnen: Tomi Ungerer zum 90.
Korrekt performen: Marina Abramović zum 75.
Mehr Licht (2): 450 Jahre Caravaggio (*1571)
Sommerloch-Porträts (3): Robert Wilsons Mund
Sommerloch-Porträts (2): Pierre Huyghes Hund
Sommerloch-Porträts (1): Tim Burtons Hand
Homepage des Arp Museums Remagen
Homepage des Hauses im Schluh
Gerade in der Teamsitzung nach Anregungen für unseren diesjährigen Betriebsausflug in der Kunstarztpraxis geschaut. Die Paula wird’s! Mit Bootsfahrt… Wir freuen uns schon! Danke für die inspirierende Beschreibung.
Antwort KunstArztPraxis: Wir sind gerührt und schreiben stante pede eine Überweisung!
Das ist mal ein Artikel! Da ist Musik in jedem Satz! Da ist Poesie! Klar und schön! Großes Kompliment! Ich bin begeistert.
Antwort KunstArztPraxis: Oh, wir auch! Ob dieses Kommentars. Herzlichen Dank.
Danke für die schöne Beschreibung zur Ausstellung, da wird es mal wieder Zeit mit der Fähre rüber zum Arp-Museum zu fahren. Ein lohnender Frühlingsausflug!
Antwort KunstArztPraxis: Ja, bitte, unbedingt. Und dann vielleicht auch noch nach Worpswede :-). Ihre KunstArztPraxis.