Wer war Max Ernst? “Image” in Brühl. Ein Steckbrief
Angeblich gehört Max Ernst mit Pablo Picasso und Andy Warhol zum Dreigestirn der am häufigsten fotografierten Künstlerpersönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Aber erfährt man auf den vielen Bildern auch etwas über Ernsts Persönlichkeit? Wir haben im Max Ernst Museum nachgeschaut.
Bekanntlich ist die Nacktheit der Frau weiser als die Lehre der Philosophen. Deshalb sollte man am besten die Frauen fragen, wenn man wissen will, wer & wie Max Ernst wirklich war. Hier also die nackte Wahrheit aus der Sicht des weiblichen Geschlechts:
Max Ernst war charmant, mit Realitätssinn und Verführungsgabe, ein schwieriger, verworrener, unentwirrbar Charakter, ein undurchdringbarer Geist, durchsichtig und doch voller Rätsel. Ein sanftes Erdbeben, ein wenig wie die Pampa. Ansonsten: eine Melange aus Geist und Gewächs.
Und irgendwie den Frauen auch auf irritierende Weise unangenehm: weil es den Frauen trotz aller Weisheit “nur schwer gelingt, seine IDENTITÄT innerhalb der eklatanten (scheinbaren) Widersprüche zu erkennen, die sich auftun zwischen seinem spontanen Verhalten und dem, was ihm vom bewussten Denken diktiert wird.”
Entweder zuckend oder gar nicht
So steht es in einem wundervollen, “Momenthafte Identität” überschriebenen Steckbrief, den Max Ernst höchstselbst verfasst hat – und dem, der geneigte Leser ahnt es längst, auch die Charakterisierungen seiner Person durch die Frauen entnommen sind. Er findet sich in Ernsts gesammelten Schriften, die vor ein paar Monaten erschienen sind – und in denen wir seitdem in unseren spärlichen Diagnosepausen immer wieder mit Vergnügen blättern.
Der Steckbrief endet mit einem abgewandelten Zitat André Bretons aus “Nadja” (auch das ein tolles Buch!), demzufolge “IDENTITÄT ENTWEDER KONVULSIV SEIN WIRD ODER GAR NICHT SEIN WIRD.”
Schuld an den weiblichen Mulmigkeitsgefühlen beim Versuch, des Künstlers habhaft zu werden, sind demnach eindeutig die Vieldeutigkeiten Max Ernsts. Er konnte seine Ichs ja beliebig wechseln: Er war halt Surrealist.
Und wenn unter seinem Passbild “Eigenschaften: keine” stand, wie es besagter Steckbrief festhält, dann lag das nicht an Ernst, sondern am Passbild: Um die Facetten des Wesens des Künstlers adäquat zu erfassen, wäre eine Collage aus vielen, scheinbar widersprüchlichen Fotos angemessen gewesen.
Porträt des Künstlers als Chamäleon
Eine derart komplexe Identitäts-Collage gibt es jetzt: “Image” ist so etwas wie Max Ernsts surrealistischer Personalausweis. Oder, besser: sein Reisepass. Denn die Bilder folgen Ernsts bebender Vielschichtigkeit durchs Rheinland, nach Paris, ins Exil in die USA und wieder zurück nach Europa.
Rund 150 Aufnahmen von Lichtkünstlern wie Henri Cartier-Bresson, Lee Miller, Man Ray oder Robert Lebeck sind in Brühl versammelt: Fotograf*innen, die natürlich immer auch ihre eigene Persönlichkeit mit haben einfließen lassen, denen Ernst aber auch einiges von der seinigen offenbarte. “Image” ist ein begehbares Porträt des Künstlers als Chamäleon.
Den Fotografien zufolge war Max Ernst galant, schelmisch und verdammt gutaussehend, verträumt und schon in jungen Jahren selbstbewusst, teils lässig, teils verkrampft, verträumt und bisweilen deplatziert, aus purem Spieltrieb mehrfach und – vor reiner Klugheit? – überbelichtet, drei Mal so groß wie Dorothea Tanning, vielleicht hin und wieder sogar glücklich, später auch tierlieb (Hunde!) und nicht immer bei der Sache. Oder vielleicht bei einer anderen.
Posieren gehört zum Surrealisten-Handwerk
Er war ein eremitischer Rufer in der Wüste, ein zärtlicher Cellospieler auf dem weiblichen Körper seiner Werke. Und er war ein stolzer Seemann, der die Takelage seines Segelschiffs fest im Griff hielt – halt, nein: Das ist ja gar kein maritimes Tauwerk auf Denise Coulombs Foto! Das ist (der zweite Blick verrät’s) irgendeine Stange in Ernsts Pariser Atelier an der Seine.
So sitzt man in “Image” natürlich auch mancher schillernden Pose auf. Posieren gehörte eben auch zur zuckend surrealistischen Persönlichkeit.
Ach ja: Haben die Frauen Max Ernst nicht nur weiser beschrieben, sondern auch weiser fotografiert als ihre männlichen Kollegen? Wir finden nicht.
Unser Lieblingsfoto stammt ohnehin von Bill Brandt. Es zeigt Max Ernsts linkes Auge als See in einer zerklüfteten Berglandschaft, die aus der faltigen Nasenwurzel und einem Teil vor Ernst imposanter Adlernase besteht. Nicht wie die Pampa, eher wie der Eagles Lake in der Sierra Nevada. Hat was von einer Frottage. Oder einer Collage. Ist aber das Fotos eines Teils Max Ernst.
Zwischen diesem in sich schon konvulsivem Foto und einem eigenschaftslosen Lichtbild aus Max Ernsts Pass liegen Welten. (13.02.2023)
“Image. Max Ernst im Foto” ist noch bis zum 23. April 2023 im Max Ernst Museum in Brühl zu sehen.
Anmerkung 1: “Die Nacktheit der Frau weiser als die Lehre der Philosophen” war der erste Text von Max Ernst, der vor rund 40 Jahren in unsere KunstArztPraxis-Bibliothek Eingang fand. Erstanden wurde er natürlich ausschließlich wegen seines Titels, wir waren a) voll in der Pubertät und fanden b) komplett verzückt vom schönen Satz, den wir im Übrigen bis heute (als einzigen!) in seiner französischen Variante auswendig können. Über den im Nachklapp verschlungenen Text kam dann der Zugang zu den Bildern und Skulpturen. Natürlich ist auch “Die Nacktheit der Frau” in Max Ernsts “Schriften” enthalten. Ohnehin: unbedingte Kaufempfehlung.
Max Ernst: Die Schriften. Hrsg. von Gabriele Wix. Mit einem Nachwort von Marcel Beyer. Verlag der Buchhandlung Walther und Franz König, Köln 2022. 636 Seiten, 48 Euro. ISBN 978-3960988670
Anmerkung 2: Wir finden das Nachwort von Marcel Beyer in Max Ernsts “Schriften” toll. Das trifft sich gut, weil Marcel Beyer nämlich auch mal ein Nachwort von Einem von uns toll gefunden hat. Dieses findet sich im “Roman der zweiundzwanzig Lebensläufe” von Marcel Schwob, den wiederum die Surrealisten klasse fanden. Max Ernst zum Beispiel zitiert ihn in seinem Collageroman “Une semaine de bonté” (1933/34). So schließt sich auch hier der Kreis.
Das Max Ernst Museum in der KunstArztPraxis:
“Surreale Tierwesen” in Brühl: Zoo mit Zerberbus
Ruth Marten in Köln: Köpfe im Tentakel-Käfig
Sommerloch-Porträts (3): Robert Wilsons Mund
Sommerloch-Porträts (1): Tim Burtons Hand
Surrealist im Geiste. Robert Wilson in Brühl
Karin Kneffel in Brühl: Von surrealer Gegenwart (Opfer der Unsichtbarkeits-Maschine)
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