Wir Seelenblinden: Alicja Kwade in Duisburg
Für uns ist Alicja Kwade eine der tollsten Künstlerinnen der Gegenwart. Jetzt hat sie im Lehmbruck Museum eine aufregende Schau, die wir einfach mal von ihrem klugen Titel: „In Agnosie“, her denken wollen. Denn dann ergeben sich sogar Bezüge zwischen unpolitisch wirkender Kunst und sozialer Gegenwart.
Als wir noch Journalisten waren, da trafen wir in Münster einmal einen Mann, der keine Gesichter erkennen konnte. Für ihn sahen alle Menschen gleich aus, und es brauchte eine Stimme, einen Gang oder eine Frisur, um zu sagen: Das ist meine Frau.
Dieser Mann erzählte uns von Babys, die im Schwimmbad verzweifelt zu schreien begännen, sobald ihre Mutter bis zum Hals ins Wasser eingetaucht sei: Denn mit dem Badeanzug sei auch die Mutter selbst vor ihren Augen verschwunden wie bei einem bösen Zaubertrick.
Worüber wir sprachen – vor 20 Jahren schon, vor allem mit der Frau des Mannes, die das Phänomen wissenschaftlich untersuchte –, nennt sich „Gesichtsblindheit“: eine Unterform der Agnosie, bei der Betroffene mit intakten Augen, Ohren oder Händen nicht zu deuten verstehen, was sie da sehen, hören oder fühlen.
In Bezug aufs gesamte Visuelle ist „Seelenblindheit“ der hübsch romantisierende deutschsprachige Begriff.
Tief im Wasser schweben Steine in den Lüften
Dass Alicja Kwade ihrer Ausstellung im Duisburger Lehmbruck Museum den Titel „In Agnosie“ gegeben hat, ist in unseren Augen auf eine metaphorische, aber auch auf eine philosophische, erkenntnistheoretische Art und Weise klug gewählt. Denn der Titel projiziert die Seelenblindheit nicht nur auf die Wahrnehmung, sondern auch auf die Machart ihrer eigenen Kunst.
In Duisburg hat Kwade die Dinge nämlich so tief ins Wasser getaucht, dass ihre Eigenschaften unserem Sehen zum Gutteil verloren gegangen sind. In ihrer Kunst nehmen wir etwas wahr, wofür uns die Begriffe fehlen.
In Duisburg werfen die Steine ihre Schwerkraft ab wie einen Mantel und schweben von der Decke. Und die Zeit verliert gleich tausendfach ihre Zeiger.
Da umschließt eine Tür ziemlich sinnlos einen Raum, statt ihn zu öffnen. Da gibt es eine Melone, die ein Planet sein könnte, aber doch ebenso augenscheinlich etwas ganz anderes ist.
Eine Glühbirne wird im Spiegellabyrinth ihr eigenes Abbild. Eine Pfeife ist keine Pfeife, sondern ein Stamm.
Und ein Fels ist eine Kugel ist eine Schale ist ein Fels.
Spoiler-Alarm: Wieder einmal Pustekuchen
Man könnte also sagen, dass Alicja Kwade uns ganz bewusst seelenblind macht. Aber das ist kein böser Zaubertrick. Kwade nutzt ihre Wahrnehmungsstörungen als aufklärerischen Akt. Sie schafft staunenswertes Blendwerk, um uns damit die Augen zu öffnen. Sie gibt der Welt mit ihren Naturgesetzen ein neues Antlitz, das uns, völlig ohne Belehrungsabsicht, qua seiner bloßen Existenz aufzeigt, wie wenig Möglichkeiten wir sehen.
In Duisburg steht eine Skulptur, die diesen unseren Zustand besonders augenfällig macht: das „Selbstporträt als Geist“ (2019).
Die patinierte Bronze besiedelt einen verwunschenen Ort im Lehmbruck-Flügel, an dem die Schatten der Bäume aus dem Park gespenstisch über die Betonwand wandern. An dieser Stelle ist das Haus bei Sonne ein Wald.
Wenn wir hineingehen, sehen wir Kwades Skulptur zunächst von hinten. Und ihr Faltenwurf verheißt uns, dass vorne ein Körper, das – vielleicht verschleierte? – Antlitz von Alicja Kwade sein müsste.
Also umrunden wir die Skulptur. Und sehen wieder nichts als gegossenen Faltenwurf.
Das Selbstporträt ist ja ein Geist, Kwade hat es nicht verschwiegen. Trotzdem ist die heilsame Enttäuschung ob unserer romantischen Vorstellung groß – sogar bei der zweiten oder dritten Umrundung.
Und überhaupt: von vorne? Von hinten? Wieder einmal Pustekuchen.
Der WIRKLICH böse Zaubertrick
Das, was Alijca Kwade macht, ist bewusste, künstlerische, teils sogar artistische Agnosie, zumindest unter anderem. Über Anderes haben wir andernorts geschrieben. Aber es gibt natürlich auch noch die selbstverschuldete Agnosie, die unsere Gesellschaft gerade befällt wie eine verstörende Seuche. Wir leben ja in einer Zeit, in der unfassbar viele Menschen offensichtlich blind, taub und gefühllos geworden sind gegenüber dem, was sie umgibt.
Diese Menschen sehen Bilder von Naturkatastrophen biblischen Ausmaßes – und leugnen trotzdem die wissenschaftlich längst erwiesenen Fakten. Sie spüren die Folgen einer Krankheit am eigenen Leibe – und halten sie trotzdem für eine Erfindung demokratischer Kräfte. Sie hören die menschenverachtenden Reden von Politikern, die sie ganz offensichtlich in den ökologischen, ökonomischen und moralischen Untergang führen wollen – und wählen sie trotzdem in die Parlamente.
Diese Menschen sehen in Kriegstreibern Friedensengel, in Demokratien Diktaturen, in Vernunft Irrsinn und in Wahrheit Lüge. DIESE Form der Agnosie, DIESES Ertränken des Faktischen, Tatsächlichen ist der wirklich böse Zaubertrick der Gegenwart.
Mit DIESER Seelenblindheit im Rücken könnte man sogar versucht sein, Kwades auf den ersten Blick ganz unpolitisch daherkommende Kunst politisch zu lesen – und sei es nur, indem man mutmaßt, dass sie auch DIESEN Spiegelfechtereien ihre skulpturalen, installativen Möglichkeitsräume entgegenstellt. Zumindest bei uns schwang auch das beim Betrachten und Umrunden im Grunde immer mit.
Egal wie man es sieht: Alicja Kwades „In Agnosie“ ist einmal mehr am Puls der Zeit. Für uns eben auch, weil diese Zeit mit ihren abgefallenen Zeigern und ihren hermetisch geschlossenen Blasenräumen nicht mehr ganz richtig tickt. Aber im Grunde: generell. (15.10.2023)
„Alicja Kwade. In Agnosie“ ist noch bis zum 25. Februar 2024 im Lembruck Museum in Duisburg zu sehen.
Anmerkung: Drei Jahre nach dem Gespräch über Gesichtsblindheit mit seiner Frau sprachen wir mit dem gesichtsblinden Mann über Verschwörungstheorien – sein damals noch recht neues und inzwischen längst brandaktuelles wissenschaftliches Fachgebiet. 2006 ist das gewesen, als wir noch Journalisten waren. So schließt sich auch dieser Kreis.
Hier das über Anderes andernorts Geschriebene: Alicja Kwade: In der Schwebe
Das Lehmbruck Museum in der KunstArztPraxis:
“Ich bin die Landschaft.” Barbara Hepworth
Traum nach innen: Antony Gormley
In der Strafkolonie: Cardiff & Miller
Beuys, der Schüler: “Alles ist Skulptur” in Duisburg
Stephan Balkenhol: Hüllen für Geschichten (gefressen von der Unsichtbarkeits-Maschine)
Bizarre Biester: Lynn Chadwick
Schön geschrieben. Mikis Theodorakis, der große griechische Komponist, sagte einmal, sinngemäß, dass Schönheit revolutioär sei, weil sie befähigt, Hässlichkeit zu erkennen. In diesem Sinne ist jede Kunst die Augen und Sinne öffnet politisch. Oder mindestens philosophisch. Was ist Wahrnehmung? Wie kann ich die Welt durch deine Augen sehen? Die Arbeiten der Künstlerin sind auch Laboranordnungen zu den Themen Raum, Zeit, Bewegung, Wahrnehmung. Die zeitgenössische Kunst kann die Naturwissenschaft ergänzen, vor allem im Quantenbereich. Präzise Messung plus Intuition plus guter Geschmack plus Empathie plus solides Handwerk ergibt dann Kunst.