Wie wir „Das reisende Auge“ gesehen haben. Teil 1
Wir hatten ja gesagt, dass wir vielleicht noch etwas zu jenem rein visuellen Trialog schreiben würden, in den wir vor Kurzem zur Ausstellung „Das reisende Auge“ im Marta Herford getreten sind. Auf vielfachen Wunsch machen wir das jetzt wahr und offenbaren unsere intimsten Gedanken.
Zumindest zu acht von zwölf unserer Collagen, bei denen wir zu den in Herford versammelten Fotos von Gabriele Münter und Kathrin Sonntag eigene Fotos beigesteuert haben – zu allen zwölf war uns zu viel. Heute gibts die ersten vier Teile, morgen dann die letzten.
Nur dies schnell noch vorab als Vorgeschichte:
Zur Jahrhundertwende bereiste die 21-jährige Gabriele Münter mit ihrer Schwester Emmy zwei Jahre lang Amerika, um ihre weit verstreute Verwandtschaft zu besuchen. Dabei mussten die Geschwister teilweise tagelang mit der Pferdekutsche durch unwegsames Gelände fahren, denn die Erschließung des Landes durch die Eisenbahn steckte noch in der Kinderschuhen.
Eigentlich hatte Gabriele Münter sich vorgenommen, ihre Verwandtschaft zu zeichnen: Sie hatte mehrere Skizzenblöcke im Gepäck. Aber dann schenkte ihr jemand (wer, ist unklar) eine Kodak Bull’s Eye No. 2: die erste Kamera, bei der man den Rollfilm bequem eigenhändig wechseln konnte. Da stieg sie um.
Für die Ausstellung in Herford hat Kathrin Sonntag eine Auswahl von Münters insgesamt rund 400 Fotografien aufgrund ihrer Ideen & Assoziationen mit eigenen Bildern kombiniert. Auf diesen Dialog reagierten dann wir. Mehr muss man als Vorgeschichte für alles Weitere nicht wissen.
Und nun, wohlan, Teil 1:
In Plainview, Texas, fotografierte Gabriele Münter mit der Kamera vor der Brust das Haus auf dem kleinen Bild, auf die Rückseite schrieb sie „Home sweet home at aunt Annie’s“. Dieses Foto ist unserer Meinung nach Münters bestes. Seine karge Trostlosigkeit war für uns vor Ort in Herford ein Schock.
In unseren Augen wollte Münter in Plainview (!) einen Siedlergeist fixieren, der seinen Claim in der verzweifelten Hoffnung absteckt, dort irgendwie zu überleben: selbst im Nirwana. Den Türhöhlen dieser stürzenden Fassade ist aus dieser Brust-Perspektive das Ende schon mit eingeschrieben. Daran ändern auch die traurigen, auf die fehlende Veranda getragenen Stühle nichts, auf die Kathrin Sonntag – ebenso wie auf die drei Öffnungen des Hauses – mit ihrem Foto reagiert.
Uns hat verblüfft, dass die Architektur in den USA wie auch die Landschaft zu Münters Zeiten teils offenbar genauso reduziert und abstrahiert war, wie Münter sie in Murnau später malte. In den USA hat sie die Linien und Flächen des Expressionismus bereits in der Wirklichkeit gesehen. Münters Expressionismus ist amerikanisch! Davon sind wir seit „Das reisende Auge“ überzeugt.
Unser umgekipptes Tiny House für einen Single hat ungefähr die Größe der süßen Heims von Münters Tante Annie (nebst Familie). Vor Jahren lag es unter einer Autobahnbrücke im Ruhrgebiet. Es könnte beim Transport vom Lkw gefallen sein, oder eine Naturkatastrophe unbekannten Ausmaßes hatte es dorthin geschwenmt. Wir wissen es nicht.
Auf jeden Fall bretterte die Zivilisation inzwischen rücksichtslos über dieses Tiny House hinweg. Es gab ja nichts mehr zu besiedeln, der Mensch hatte die Welt bereits komplett versiegelt. Seine Pionierzeit war zu Ende, der Siedlergeist perdu. So jedenfalls haben wir uns das damals ausgemalt. (Und auf die Drei in Münters stürzender Fassade und auf Sonntags Foto reagieren wir natürlich trialogisch auch.)
Für uns ist übrigens auch Kathrin Sonntags Haus umgekippt: Das Dach ist unten, der Boden oben. So jedenfalls ist uns das in Herford erschienen. Sonst hätten wir uns an unser Foto von damals gar nicht mehr erinnert.
In den USA entwickelte Gabriele Münter offenbar ein gewisses Faible für Gerichte: Unter ihren 400 Fotos zeigen ein Prozent ausschließlich Justizgebäude. Sie waren ihr so wichtig, dass sie alle vier Aufnahmen in ein später von ihr gestaltetes Foto-Album integrierte.
Münters noch bis zum 12. Januar 2025 in Herford dauerbrennendem Haus fehlen zwar die typischen Insignien an der Fassade, aber wir stellen uns trotzdem vor, dass hier die augenbindenblinde Justitia mit ihrer Waage wohnte. Und wo wir schon bei Symbolen sind: Von uns & heute aus betrachtet brennt hier nicht nur das Gebäude. Es brennt das gesamte US-Rechtssystem.
Kathrin Sonntag interessierte offenbar vor allem das Verwischte, das der Rauch auf Münters Bild erzeugt: Bei ihr ist daraus so ein Fensterputz-Verwischtes geworden. Das interessierte uns natürlich auch, aber wir wollen mit UNSEREM Verwischten dem brennenden Haus des Rechtssystems Gutes tun. Wo Gefahr ist, wischt ja bekanntlich das Rettende auch.
Deshalb spenden wir dem Bau auf Münters Bild mit unserem Foto Wasser aus den Plitvicer Seen. Dessen natürliche Kaskaden haben eine derartige, das Verwischte selbst bei normaler Verschlusszeit der Kamera erzeugende Kraft, dass sie jedes Feuer zu löschen imstande wären. Selbst wenn die Demokratie in den USA oder anderswo in Flammen stünde.
Anmerkung: Wir möchten auch kurz darauf verweisen, dass Münter 1898 tatsächlich auch nach Buffalo reiste, um sich die Niagarafälle anzuschauen. Das Erlebnis scheint aber eher ein Rheinfall gewesen zu sein: Von der dortigen Wasserkraft war sie klar weniger beeindruckt als wir von der Kroatiens.
Der Schatten des Körpers des Fotografen begegnete uns als Gestaltungsmerkmal erstmals & gleich doppelt ausgerechnet in der Straßenfotografie der USA, namentlich bei Garry Winogrand & Lee Friedlander: in unseren Augen zwei ganz Große ihres Fachs.
Aber es gab ihn schon bei Gabriele Münter, in St. Louis, zur Jahrhundertwende! Das haben wir erst in Herford erfahren. Und Kathrin Sonntag hat es offensichtlich schon vor uns gewusst.
Bei Winogrand & Friedlander fällt ihr Schatten auf die in kurzer Distanz fotografierten Passanten in den New Yorker Häuserschluchten: DIESE Schatten waren oft unumgänglich. Bewusst war hier vor allem die Entscheidung, die Fotos nicht auszusortieren. Zumindest zum Teil.
Münter aber hätte für ihr Foto am Horseshoe Lake alle Zeit der Welt gehabt, um ihren eigenen Schatten – wie bis heute bei Knipsereien Usus – kompositorisch zu vermeiden. Hat sie aber nicht. Im Gegenteil! Und war damit Winogrand & Friedlander – zumindest zum Teil – meilenweit voraus.
Auf unserer trialogisch hinzugefügten Aufnahme mit der Polaroid, die, wie Alle wissen, ein Fixfokus-Objektiv wie Münters Kodak Bull’s Eye besitzt, geht der Schatten des Körpers des Fotografen im Schatten des Körpers des Eiffelturms unter: ein in der Straßenfotografie bisher unbekanntes stilistisches Mittel, auf das wir zu recht stolz sind.
Denn: Der Schatten des Körpers des Fotografen ist im Schatten des Körpers des Eiffelturms ja da! Auf irgendeinem Haus da unten muss er liegen.
Anmerkung: Wir würden jetzt gern noch behaupten, wir hätten Wolfdietrich Schnurres großartigen Roman „Der Schattenfotograf“ von 1978 im Gepäck gehabt, als wir den Eiffelturm erklommen. Aber das wäre ein objektiver Zufall, den wir erfunden hätten. Und sowas tun wir nicht. Lieber verstecken wir in unseren Texten literarische Anspielungen, dem versteckten Schatten des Körpers des Fotografen im Schatten des Körpers des Eiffelturms nicht unähnlich! Na, findet Ihr sie?
2023 waren wir für ein paar Stunden in Lourdes. Über das illuminierte Spektakel für gut betuchte Gläubige hat KunstArzt1 ein Fotobuch gemacht (unten gibt’s die pdf), und das „gut betucht“ meinen wir in diesem Fall auch wörtlich: Es goss nämlich in Strömen.
Irgendwann stießen wir am Wegesrand auf einen Schirm, mit dem ein Pilger sich Michelangelos Sixtinische Kapelle aus Rom zur französischen Madonna mitgenommen hatte: als eine Art beschützenden Baldachin gegen die meteorologischen Gefahren des Himmels, zum Beispiel während einer der von der Marien-Erscheinung damals eingeforderten Lichterprozessionen.
Umsonst: Der Wind, der Wind, das himmlische Kind hatte den Schirm in die Bäume geweht. Das Licht dieser Prozessionskerze ist wohl verloschen.
Uns gefiel besonders, dass der Wind den Schirm in die lourdinischen Feigenbäume wehte, denn die nachträgliche Übermalung von Geschlechtsteilen zum Beispiel mit Feigenblättern zum Schutz von Auge und Phantasie war nicht nur zu Michelangelos Zeiten en vogue, sondern betraf ganz konkret auch sein kurz nach der Enthüllung vom „Hosenmaler“ Daniele da Volterra tatsächlich übermaltes „Jüngstes Gericht“ in der Sixtinischen Kapelle.
Man kann sich ja mit Schirmen, Plastikhüllen oder Feigenblättern vor Vielem schützen: Vor der Sonne wie die impressionistische Dame von Gabriele Münter am Mississippi, vorm Regen wie die Gläubigen in Lourdes – und vor den höllischen Versuchungen nackter Männlichkeit wie bei Kathrin Sonntags auf ihrem Gartentor-Sockel trohnender David-Kopie. Nur vor Kitsch & Kommerz schützt offenbar nichtmals die Ablass gewährende Religion.
Beim himmlischen Wind von Lourdes jedenfalls scheint es sich um einen göttlichen Wind gehandelt haben, und damit beim Schirm im Feigenbaum um eine Art symbolisches Gottesurteil. Wir geben deshalb hiermit an Papst Franziskus weiter, dass der Himmel damit einverstanden ist, dass der Vatikan die Schamarbeit des Hosenmalers Daniele da Volterra bei der Restaurierung des „Jüngsten Gerichts“ Ende des 20. Jahrhunderts gegen alle Notwendigkeit beibehalten hat.
Bitteschön. Dankeschön. Ihre KunstArztPraxis
Anmerkung: Dass die Kopie von Michelangelos David im Victoria and Albert Museum auf royale Beschwerde hin auch ein beschirmendes Feigenblatt aus Gips erhielt, und dass bis heute Mini-Davids mit Feigenblatt in Umlauf sind, sei hiermit nur am Rande erwähnt. Vielleicht hat ja auch Kathrin Sonntags zellophanverpackter David eines? Dann schlösse sich der trialogische Kreis abermals.
Ach ja: Das Fotobuch von Lourdes gibt’s hier kostenlos als pdf.
(31.08.2024)
„Kathrin Sonntag und Gabriele Münter. Das reisende Auge“ läuft noch bis zum 12. Januar 2025 im Museum Marta in Herford. Und SO sieht die prächtige Präsentation tatsächlich aus:
Für reinen Bildgenuss: Als Trialog: „Das reisende Auge“ im Marta Herford – und bei uns
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Wieder mal tolle Geschichten zu einer tollen Aktion! Ihr habt es einfach drauf. Weiter so!!! Franz Kodschulte