„Sichtbar Unsichtbar“: Ein Gang durchs Marta-Depot
Für uns war im November schon Bescherung: Wir durften ins Depot des Marta! Das war ein Präsent, das uns teils sogar ausgepackt wurde, im verhülltem Zustand aber fast noch verheißungsvoller vorkam. Hiermit schenken wir die Erfahrung an alle Leser*innen weiter – verknüpft mit einer Ausstellungs-Idee.
Museen sind ja Eisberge: Ein Gutteil ihres imposanten Sammlungskörpers bleibt unseren Blicken gemeinhin unter der Oberfläche, sprich: im Depot verborgen.
So auch im Marta. Zwar präsentiert die neue Direktorin Kathleen Rahn dort gerade dankenswerterweise endlich einmal wieder 30 Positionen aus der Ständigen Sammlung (wir berichteten). Aber das ist natürlich nur die Spitze des Eisbergs! Gleichzeitig bleiben nämlich rund 470 Positionen weiter unter Verschluss. Und zwar, wie wir uns überzeugen konnten, sicher & verlockend verpackt wie Präsente unterm Tannenbaum.
Alles muss raus!
Eisberg und Präsente unterm Tannenbaum? Das passt ja wie die Faust aufs Auge zur Winterweihnachtszeit! Deshalb sind wir froh, rechtzeitig zum Frohen Fest eine Idee präsentieren zu können, die uns während unseres Besuchs im Depot des Marta vor ein paar Wochen durch den Kopf geschossen ist.
Unserer Meinung nach sollte man nämlich nicht nur 30, sondern alle rund 500 Werke der Ständigen Marta-Sammlung einmal in die Ausstellungsräume verfrachten – und zwar (quasi in Christo-Manier) genauso verpackt, wie wir sie hinter gut gesicherten Türen gesehen haben.
Spiel mit unseren Phantasien
„Sichtbar Unsichtbar!“ könnte eine solche Ausstellung heißen, die uns den ganzen Eisberg der Bestände im Geschenkpapier aus Strech- und Noppenfolie oder blickdichten Holzkisten offerierte und auf diese Weise – wie viele andere Marta-Schauen bisher, aber eben auch wieder ganz anders – mit unseren Sehnsüchten, Ängsten und Phantasien spielte: kalt und gefährlich wie am Südpol, aber auch feierlich-verheißungsvoll wie auf dem Gabentisch.
Wir zeigen einfach mal an ein paar Exponaten, wie das aussehen könnte – verknüpft mit ein paar teils sehr assoziativen Gedanken zur Sichtbarkeit des Unsichtbaren. Voilà:
Robert Wilson: Quartet Sofa (Heiner Muller and Madame de Merteuil)“ (1987)
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Wenn wir das richtig verstanden haben, dann gehört auf diese hier verborgene und nur als Bild im Bild visualisierte Ottomane Robert Wilsons noch eine sich räkelnde Sängerin (Madame de Merteuil gehört des Reimes wegen eher aufs Fauteuil). Das Exponat war nämlich Teil einer Performance, die mal im Marta gelaufen ist, wenn wir das richtig verstanden haben, und wir können nur inständig hoffen, dass sich in der Kiste tatsächlich nur noch die auf der Fotokopie abgebildete Ottomane befindet.
Sonst wäre es bei Wilsons Sängerin nämlich wie bei Schrödingers Katze: Erst beim Öffnen der Kiste würde sich entscheiden, ob sie wie ein Springteufel herausschnellte, um zum Beispiel mit dem Spiegel in der Hand die Juwelenarie der Margarete aus Gounods „Faust“ zu schmettern („Ha, welch ein Glück, mich zu sehen“), also performancetauglich geblieben wäre – oder eben gänzlich räkellos darniederläge.
Bei geschlossener Kiste bleiben beide sich überlagernde Zustände im Sinne der Quantenmechanik wahr.
Angela Fette: „Musikmaschine“ (2018)
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Unsichtbarer als eine (hoffentlich) abwesende Sängerin ist nur noch Musik: ein Hauch aus Tönen, der Instrumenten entspringt. Angela Fettes Musikmaschine haben wir in der Marta-Ausstellung „Brisante Träume“ 2018 schon mal gesehen. Aber eingepackt vorher noch nie.
Was aber lässt sich über das einst erblickte Unsichtbare sagen? Wir haben bei Angela Fette einfach einmal nachgefragt. Wir erreichten sie in Israel: einem Land, das wir wie Mose bisher nie sehen durften, dessen Städtenamen – Haifa, Aschdod, Akko, Ramla, Moschawim – aber Musik in unseren Ohren sind. Für unsere imaginäre Schau ein gutes Omen! Und hier kommt ihre Antwort:
„Das ist die Musikmaschine, die einmal eine Feuermaschine war. Sie hat zwei Räder, die eine Mischung aus Sonnenrädern und Zahnrädern sind. Aber die Zähne und Strahlen sind stilisierte Blitze. Sie sollen über die Wand auf farbigen Notenlinien-Streifen rollen. Die Räder scheinen die Noten abzusondern oder von sich zu schleudern, die über die Linien hüpfen. Es ist eine abstrakte Party des Lebens. Die Musikmaschine betont die Schönheit, die Vielfalt, die Buntheit der Kunst, aber auch das Unergründliche, was den Geist fliegen lassen kann.“
Wir empfehlen: Augen schließen, die Worte wirken und den Geist gleichzeitig fliegen lassen! Dann erhebt sich die Musikmaschine imaginär aus ihrer Kiste und entrollt sich notenabsondernd an der nächstbesten Wohnungswand.
Eva & Adele: Kleider (Ende 20. Jahrhundert)
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Wenn man sich über die Sichtbarkeit des Unsichtbaren Gedanken macht, darf Hans Christian Andersens Märchen von des Kaisers neuen Kleidern nicht fehlen! Darin geht es ja zu wie im Kunstbetrieb: Hier wie dort gibt es bisweilen nichts Besonderes zu sehen (sofern eine unbekleideter Kaiser nichts Besonderes ist). Aber keiner traut seinen Augen, um sich mit der nackten Wahrheit im Kreis der Modeschwärmer und Claqueure nicht bis auf die Knochen zu blamieren.
Das ist die eine Seite der Medaille. Auf der anderen Seite geht es im Kunstmärchen wie in der Kunst selbstverstädndlich immer auch um Phantasie. Und die kann aus dem unscheinbarsten Unsichtbarsten im Handumdrehen etwas ganz Besonderes machen. Ein Kunstwerk ist ja immer nur ein Serviervorschlag für Imaginationen.
Die Schneiderpuppen im Marta-Depot jedenfalls dienten einmal als Kleiderständer in jener Zeitmaschine, mit der Eva & Adele Ende des 20. Jahrhunderts in Berlin gelandet sind. WIR sehen die daran hängenden Kleider natürlich immer noch. Das Pink der hohen Kragen schreit uns entgegen, das Schwarz der Rüschen beruhigt unseren Blick. Manches ist eher Hochzeits-, manches Ballkleid, manches Kimono, aber alles ist verdoppelt. Und wer genauer hinschaut, sieht auch vier riesige, herzförmige Flügel.
Die Kleider dürften wir übrigens eigentlich nicht zeigen, da hält die im Kunstbetrieb omnipräsente Unsichtbarkeits-Maschine ihre Klauen drauf: noch so eine zum Thema passende Geschichte. Aber eine Maschine sieht zum Glück natürlich nur die nackten Puppen.
Nevin Aladağ: „Läufer“ (2016)
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Nanu? Erstreckt sich Nevin Aladağs Läufer nicht justament in diesem Augenblick in Kathleen Rahns „Perspektiven einer Sammlung“ in den Ausstellungsräumen gut sichtbar vom Boden bis zum Fenster in der Decke? Was macht er also gleichzeitig verschweißt hier im Depot? Wurden wir vielleicht Zeugen des Wunders der Bilokation, für das man in einer Religion, die ihre Teppiche nicht nach Mekka ausrichtet, gern auch schon mal heiliggesprochen wird – sofern es Zeugen gibt wie uns?
Richtig und falsch zugleich! Wenn wir das richtig verstanden haben, ist dies hier nämlich das eingerollte Läufer-Body-Double, das nur im Notfall zum Einsatz kommt. Kinostars wie Julia Roberts haben Body-Doubles für ihre Beine oder Diktatoren wie Sadam Hussein für ihr Überleben. Dass aber auch Kunstwerke Body-Doubles haben können, haben wir erst im Depot gelernt.
Allen Body-Doubles gemeinsam ist, dass man sie (ganz oder in Teilen) zwar wahrnimmt, jedoch nicht als das erkennt, was sie ontologisch sind. Dass die Beine von Julia Roberts in „Pretty Woman“ Shelley Michelle gehören, übersieht man leicht, und bei Diktatoren fällt der Unterschied überhaupt nicht ins Gewicht: Sie sind ja komplett austauschbar. Egal: Auch Wahrnehmen ohne Erkennen ist ein wichtiger Aspekt des sichtbar Unsichtbaren.
Und wir können, Zellophan sei Dank, der Unsichtbarkeits-Maschine abermals ein Schnippchen schlagen.
Norbert Schwontkowski: „Licht an“ (2010)
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Klar, stimmt, Sie haben Recht, wir sehen es ja selbst: Norbert Schwontkowskis Gemälde „Licht an“ ist unverpackt! Das grandiose Gemälde war zwar im Bilderregal des Marta-Depots sicher verstaut, aber eben auch noppenfolienfrei, als Ute Willaert es für uns aus dem Regal gezogen hat. (Danke, Ute Willaert!)
In eine „Sichtbar Unsichtbar!“-Ausstellung gehört das Bild in unseren Augen aber trotzdem hinein – und ausnahmsweise einmal genau so unverhüllt, wie es sich auf unserem Foto präsentiert. Zum einen, weil Norbert Schwontkowski unserer Meinung nach ausnahmslos in JEDE Ausstellung hineingehört. Zum anderen aber auch, weil das Thema unserer imaginären Schau ja auch Thema seines Bildes ist!
Denn: Was beleuchtet der von wo auch immer in was auch immer herunterbaumelnde Leuchtkörper, hm? Schauen Sie doch einfach mal genauer hin! Was sehen Sie? Genau: Wie Sie sehen, sehen sie nichts! Und zwar je mehr nichts, desto länger sie hinsehen. Wie bei einem glühbirnenbestrahlten Stromausfall. Toll, oder? Und quod erat demonstrandum.
Hamish Fulton: „Dolomites“ (2004)
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Ja, nochmal geschenkt: auch unverpackt! Dieses Werk haben wir uns aus purer Neugierde einfach mal enthüllen lassen. (Danke nochmal, Ute Willaert!)
Fultons Offset-Druck von 2004 stammt noch aus den Ankaufsbeständen des Marta-Gründungsdirektors Jan Hoet. Der künstlerische Ausdruck einer achttägigen Wanderung des „Walking Artist“ auf den Gipfel der Marmolada war, wenn wir das richtig verstanden haben, noch nie im Marta ausgestellt, wurde vermutlich hier zum ersten Mal seit Jahrzehnten wieder ausgepackt (?), und allein DAS prädestiniert ihn für unsere „Sichtbar Unsichtbar“-Ausstellung natürlich ungemein.
Wir finden, dass Fultons Dolomiten ihre Kraft gern weiter im Verborgenen des Depot entfalten können dürfen müssen! Richtig gute Kunst wirkt ja auch, wenn keiner sie anschaut. oder? Egal: EIN Werk, dass noch nie das Licht der Ausstellungswelt erblickt hat, sondern im Eisberg schläft wie Kaiser Barbarossa im Kyffhäuser, sollte sich unserer Meinung nach eigentlich jedes Museums dieser Erde leisten.
Und wenn man diese nie gezeigten Werke dann irgendwann einmal in einer „Sichtbar Unsichtbar“-Schau sorgsam verpackt zusammenbrächte … Hach, wir dürfen gar nicht daran denken.
Lena Henke: „Ohne Titel“ (2023), noch ohne Ort
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Das hier ist natürlich nur ein Symbolbild! Es zeigt den Pferdehufenbogen „My Trust“ von Lena Henke aus ihrer Ausstellung „My Fetish Years“ 2019 im MGK Siegen. Den Bogen von hier zu unserer imaginären „Sichtbar Unsichtbar“-Ausstellung schlagen wir wie folgt:
Nachdem wir Lena Henkes Werk vor drei Jahren im MGK endgültig für uns entdeckten, durften wir die Künstlerin im August 2021 für den Marta-Preis der Wemhöner Stiftung vorschlagen – und die Jury hat sie doch tatsächlich ausgewählt! Im kommenden Jahr wird Lena Henke deshalb mit einer Ausstellung die Lippold-Galerie des Marta schmücken, was zum Preis dazugehört – samt eines eigens geschaffenen Werks für die ständige Museumssammlung! Dieses Werk existiert noch nicht, vielleicht noch nichtmal als Idee. Wir haben bei der Künstlerin in New York nachgefragt, aber sie wollte uns aus verständlichem Gründen noch nichts verraten. Alles Greifbare wäre demzufolge Gerücht.
Unsichtbarer als Lena Henkes Werk für die Marta-Sammlung kann man als Exponat also gar nicht sein! Und sichtbar unsichtbarer verpackt als auf diesem Symbolbild kann man das in unseren Augen auch gar nicht zeigen.
Auch 2023 gibt es noch Geschenke!
Über Lena Henkes Schau im Marta werden wir 2023 natürlich in Wort und Bild berichten! Falls aus unserer „Sichtbar Unsichtbar!“-Ausstellung also nichts werden sollte, haben wir trotzdem etwas, worauf wir uns freuen können. Auch sichtliche Vorfreude auf etwas noch nahezu komplett Verborgenes ist ja ein großes Geschenk. DAS allerdings ist bei Eisbergen (siehe Titanic) anders.
In diesem Sinne: Frohes Fest. Einen glücklichen Start ins Neue Jahr. Und: Bleiben Sie uns gewogen.
Ihre KunstArztPraxis (25.12.2022)
Anmerkung, für alle Schneider: Eva – Größe: 176; Brustumfang: 101; Taille: 81; Hüfte: 96; Adele – Größe: 161; Brustumfang: 86; Taille: 68; Hüfte: 96.
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