Joseph Beuys reloaded (6)
Ende 2020 starb mit Franz Joseph van der Grinten der letzte der beiden ersten Sammler und Weggefährten von Joseph Beuys. Gern erinnern wir uns an ein wundervolles Gespräch, dass wir bei ihm daheim über seine Jahre mit Beuys führen durften. Hier der letzte Teil: Warum Beuys heute noch?
KunstArztPraxis: Herr van der Grinten, viele Menschen finden keinen rechten Zugang zum Werk von Joseph Beuys…
van der Grinten: Das wäre ja auch ein Wunder! Das, was Beuys gemacht hat, kann nie Allgemeingut werden.
KunstArztPraxis: Und warum nicht?
van der Grinten: Allein schon deshalb nicht, weil die Lebensumstände, die Beuys geprägt haben, völlig andere waren als die der jungen Leute heute.
Beuys ist ja durch die Feuerprobe des Krieges gegangen, und zwar als Soldat. Diejenigen, die nach dem Krieg aufgewachsen sind, sind in die deutsche Wohlstandsgesellschaft hineingeraten und haben all diese existentiellen Notpunkte nicht erlebt.
Das Sich-Nach-Oben-Kämpfen des Profits
KunstArztPraxis: Wo liegt denn dann Beuys‘ Bedeutung heute noch? Was kann man Beuys-Gegnern da noch entgegnen?
van der Grinten: Zunächst einmal, dass Beuys‘ Bedeutung für uns alle selbst im Alltagsleben höchst vielfältig ist!
Da ist vor allem die überall im Werk spürbare Vermittlung eines Gefühls für die Würde eines jeden Menschen. Das ist meines Erachtens ein ganz großer Akt. Gerade in unserer Zeit, wo alles über uns hinwegrollt im Sich-Nach-Oben-Kämpfen des Profits.
KunstArztPraxis: Und künstlerisch?
van der Grinten: Ein Verdienst von Beuys für die schon nachgekommenen und noch nachkommenden Künstler ist es, ein neues Selbstvertrauen erweckt zu haben für die freie Verwendung der Ausdrucksmittel. Nach Beuys wird anders gezeichnet als davor. Selbst der Strich ist durch sein öffnendes Verständnis gehaltvoller geworden.
Der Satz von Beuys, dass Zeichnen eigentlich die Verlängerung des Gedankens sei, drückt das sehr schön aus. Wenn man es zeichnerisch schafft, sich nicht mehr selbst etwas „auszudenken“, sondern die Linie als Ort der eigentlichen Kreation selbst agieren zu lassen, dann ist der Grad höchster Freiheit erreicht. Und die höchste Qualität.
Aber auch das Materialverständnis ist seit Beuys ein anderes. Bei Beuys besteht Material nicht einfach in seiner Anhäufung von Objekten, wie bei den Kotflügeln des französischen Objektkünstlers Arman oder anderen von Beuys‘ Zeitgenossen.
KunstArztPraxis: Worin denn dann?
van der Grinten: Bei Beuys finden die Dinge zueinander: ein Besen, ein Bürstchen, ein Stückchen Ton, Brot, Käse, eine Kordel. Dinge, die eigentlich nichts miteinander zu tun haben und die bis dahin niemand in einen Zusammenhang gebracht hätte. Bei Beuys ist dieser Zusammenhang hergestellt, aber nicht willkürlich, sondern mit einer inneren Logik, die unmittelbar einleuchtet.
Das ist die Aufhebung jeder Art von Hierarchie des Materials. Ob das Silber oder Zahnpasta ist, spielt keine Rolle. Künstlerisch können sie die gleiche Funktion haben – und je nachdem, wie man sie einsetzt, auch die gleiche Qualität.
KunstArztPraxis: Und das war einflussreich?
van der Grinten: Ja. Das war einflussreich. Das sind Dinge, die weitergeführt haben. Viel von Anselm Kiefers oder Felix Droeses Materialverständnis geht auf Joseph Beuys zurück, ebenso wie Vieles im Bereich der Aktionskunst.
Das kann man nicht wegdiskutieren. Auch so lang nach seinem Tod nicht.
Anmerkung: Das rund vierstündige Gespräch mit Franz Joseph van der Grinten fand Anfang Januar 2006 aus Anlass von Beuys‘ 20. Todestag im Haus des Sammlers am Niederrhein statt. Das Interview wird in der KunstArztPraxis in loser Folge in sechs Teilen veröffentlicht. Es wurde vom Sohn, dem Galeristen Franz van der Grinten, 2021 zusätzlich noch einmal autorisiert.
Joseph Beuys reloaded (I): Der Mensch
Joseph Beuys reloaded (II): Jeder Mensch ein Künstler?
Joseph Beuys reloaded (III): Der Lehrer
Joseph Beuys reloaded (IV): Der Zeichner
Joseph Beuys reloaded (V): Beuys für Sammler
Meinung: Joseph Beuys: Krise & Heilung (KunstArztPraxis)
beuys2021: Informationen zum NRW-Jubiläumsjahr
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