Joseph Beuys und die Sichtbarkeits-Maschinen
Zwei Jahre nach seinem 100. Geburtstag ist Josef Beuys wieder mausetot. Aber es gibt verborgene Orte, an denen er weiterlebt. Zum Beispiel im Bahnhof von Peter Sevriens, der Beuys nicht nur fotografiert hat, sondern ihm künstlerisch teils auch sein Leben verdankt. Eine Re-Animation zum 37. Todestag.
Die Älteren unter uns werden sich erinnern: 2021 war Beuys-Jahr und wir haben mitgemacht.
Wir haben Joseph Beuys zum 100. Geburtstag unser Eröffnungsplädoyer gewidmet, ihm auf unserer Couch 100 Fragen gestellt, der interessierten Öffentlichkeit Bastelanleitungen für DIY-Editionen seiner Werke offeriert. Wir haben für den WDR mit seinen Schüler*innen gesprochen, ein mehrteiliges Interview mit seinem ersten Sammler gebracht, ein Quiz veranstaltet und ein Intuitions-Gedicht für ihn geschrieben – ja: Wir haben sogar dem toten Hasen Joseph Beuys erklärt. Kurzum: Wir haben uns echt ins Zeug gelegt.
Genützt hat das Beuys wenig. Er ist wieder komplett in der Versenkung verschwunden, so wie in den 30 Jahren nach seinem Tod. Es war ein Blitz mit kurzem Donner. Aber auch das hatten wir damals schon vorausgesagt.
Schuld daran ist ein Phänomen, für das wir 2021 den Begriff der Unsichtbarkeits-Maschine erfunden haben. Bei Beuys hat diese Maschine besonders viele, besonders scharfe Krallen.
Aber es gibt einen Mann, der sich der Unsichtbarkeits-Maschine hartnäckig widersetzt. 1981 ist er zu Beuys ins Atelier gefahren und hat dort Fotos gemacht, die sich ihrem verschlingenden Einfluss heldenhaft entziehen.
Peter Sevriens heißt dieser Mann. Inzwischen ist er 80. Mit seiner Frau Karin wohnt er in einem ehemaligen Bahnhof in Meinerzhagen im Sauerland. Aber eigentlich wohnt er in seinem eigenen Gesamtkunstwerk, das der Welt seinerseits bisher weitgehend verborgen geblieben ist.
In unseren Augen ist auch dieses Gesamtkunstwerk zur Unsichtbarkeits-Maschine ein Kontrapunkt.
Aus Tausenden gesammelter Kameras, Uhren und Feuerzeuge, aber auch mit Hilfe vieler anderer gefundener Objekte hat Peter Sevriens nämlich unzählige Sichtbarkeits-Maschinen gebastelt, die in ebenso witziger wie kritischer Manier verborgene Bezüge zwischen den Dingen und den Wörtern aufdecken – oder eben erst kreieren. Und in deren collagierten Facettenaugen blitzt immer wieder auch Joseph Beuys.
Etwas Beuys, viel Ungerer
Schon im Beuys-Jahr hatte uns Peter Sevriens des Öfteren per Mail mit Bildmaterial ausgeholfen, um der Unsichtbarkeits-Maschine ein Schnippchen zu schlagen (vielen Dank noch einmal hierfür, Peter Sevriens!). Jetzt haben wir dem Künstler rechtzeitig zum 37. Todestag von Joseph Beuys endlich einmal einen Hausbesuch abgestattet.
Wir haben uns im Zigarettenrauch (war da nicht auch der Duft von Räucherstäbchen?) äußerst gut & äußerst lange unterhalten. Wir haben Blues-Musik (und Trip Hop?) gehört. Und wir haben von Karin Sevriens gebackenen Kuchen gegessen (Danke auch hierfür, Karin Sevriens!).
Was für sympathische Menschen.
Vor allem aber haben wir uns überwältigen lassen von dieser ganz eigenen Kunst, der ungeheuerlichen Fülle, die wir zum ersten Mal sehen durften – und die sicher das Einfache der Materialien mit Beuys‘ Werk gemein hat, vom Denken und von der Energie her aber vielleicht der Skulpturen-Kunst Tomi Ungerers näher steht.
Auf unseren Streifzügen durch das Labyrinth des Bahnhofs haben wir überall natürlich auch Joseph Beuys entdeckt: nicht nur seinen Geist, der das Haus durchweht, sondern auch sein von der Unsichtbarkeits-Maschine andernorts so sorgsam verhindertes Gesicht.
Auf alten Aktien. Auf Collagen aus Geldscheinen und Taschenuhrwerken. Auf Staffeleien. In einem Hausaltar mit Walkie-Talkie-Flügeln. Oder als Negativ mit stechenden Insektenaugen im tragbaren Rahmen. (Und das ein oder andere für uns ausgepackte Foto haben wir für die Fotostrecke unten offen gestanden auch arrangiert.)
Chemie und Überredungskunst
Lange habe es damals gedauert, bis Beuys ans Telefon gegangen sei, erzählte uns Sevriens: „Er war ja ständig unterwegs und Jeder wollte mit ihm reden.“ Uns als er dann endlich mit einem Assistenten im Düsseldorfer Atelier stand, habe sich Beuys erstmal ein wenig geziert. Aber die Chemie sei da schon da gewesen. Und Sevriens‘ Überredungskunst war groß.
Die rund 30-40 Fotos, die Sevriens in der Dunkelkammer teils stark verfremdete, mystisch neblig machte, haben Beuys gefallen: vielleicht auch wegen des Blicks des Fotografen nicht nur auf ihn, den Star, sondern auch auf das scheinbar Unscheinbare seiner Materialien & Utensilien im Atelier. Spontan habe Beuys einige dieser Fotos signiert: zum Entsetzen von Eva Beuys, aber zur Freude von Sevriens selbst.
Beuys habe ihm damit eine Art Zeugnis ausgestellt, sagt Sevriens, und als der gar nicht mehr so junge Niederländer anmerkte, jetzt Kunst studieren zu wollen, habe der Niederrheinländer gesagt: „Wozu? Sie sind doch schon ein Künstler!“
Die von Beuys signierten Fotos jedenfalls haben die Qualität holländischer Stillleben.
Wenn Beuys der Hut hochgeht
Einige Werke, die Beuys Sevriens damals geschenkt hat (und die wir wegen der Unsichtbarkeits-Maschine hier leider nicht zeigen dürfen), hängen ebenfalls an der Sauerländer Bahnhofswand. Und es gibt eine angedachte Zippo-Edition mit dem Konterfei des Jahrhundertkünstlers, deren Prototyp wir hier erstmals präsentieren dürfen: Klappt man den Hut hoch, entzündet Beuys loderndes Gehirn Zigaretten, Räucherstäbchen, Joints – oder die eigene (hoffentlich beuysgerechte) Feuerstätte.
„Hüte die Flamme“, um es (etwas kalauernd abgewandelt) mit dem letzten hehren Fremd-Zitat zu sagen, die Beuys vor seinem Tod in der Öffentlichkeit gesprochen hat.*
*“Schütze die Flamme“, aus einem Gedicht von Pietro Trapassi, gesprochen im Lehmbruck-Museum in Duisburg am 12.1.1986, seiner letzten Rede. „Hüte die Flamme“ wäre aber auch eine mögliche Übersetzung gewesen.
Als Joseph Beuys am 23. Januar 1986 in Düsseldorf gestorben sei, habe er die Tageszeitung mit der Schlagzeile „Der Mann mit dem Filzhut ist tot“ in den Schnee gesteckt und abfotografiert, sagt Sevriens. Es war halt ein frostiger, trauriger Tag. Aus diesem Foto ist eine Collage entstanden, die ebenfalls im Sauerländer Bahnhof hängt.
Sie hat die Form eines Auges, ja: eines Auges! Auch das wollen wir Sichtbarkeits-Fanatiker von der KunstArztPraxis am 37. Todestag von Joseph Beuys zumindest kurz erwähnen.
Nimm das, Unsichtbarkeits-Maschine. (23.01.2023)
Appendix: Peter Sevriens und die drei Baustellen
Wir haben uns wie gesagt äußerst lange & äußerst gut mit Peter Sevrines unterhalten. Eine dabei zum Vorschein gekommene Anekdote scheint uns (wie auch dem Künstler) grundlegend für sein Werk. Sie reicht mehr als sieben Jahrzehnte zurück in die Kindheit in Venlo, und sie könnte (weitaus pathetischer) von Thomas Mann oder (in ungleich ekligerer Form) von Quentin Tarantino stammen. Aber sie ist von Sevrins selbsterlebt. Voilà:
„Ich weiß es noch genau, ich war vielleicht dreieinhalb, vier Jahre, ich bin ja 1942 geboren, das war kurz nach dem Krieg, da habe ich im Wald einen alten Karabiner gefunden, den ein Soldat weggeschmissen hatte. Mit dem bin ich nach Hause, und mein Opa wollte mir das Ding abnehmen, aber ich wollte nicht. Mein Opa hatte immer so eine goldene Taschenuhr in der Hosentasche, auf die ich ganz scharf war, deshalb hat er gesagt: Wenn du mir das Ding gibst, kriegst du die Uhr.
Natürlich habe ich die Uhr nicht gekriegt, das Ding war weg, das habe ich im Unterbewusstsein behalten. Deshalb sind in meinen Objekten so viele Uhren und Waffen eingebaut. Diese Sachen haben mich geprägt. Wie Beuys. Der Krieg. Filz und Fett. Ob man mit Filz und Fett arbeitet oder mit alten Uhren oder abgesägten Karabinern, ist ja egal. Mit Kunst kann man sich heilen von diesem Trauma, das ich das Ding nicht behalten durfte und die Uhr nicht bekam.“
Es sind also auch diese Wunden reißenden Baustellen der eigenen Kindheit, die Sevriens zu humorvoll-doppelbödigen Collagen verarbeitet hat. Aber es sind auch die ansatzweise miterlebten historischen Baustellen der Menschheit, die durchscheinen – zum Beispiel in Form einer groszartigen Tyrannen-Collage, die aus einem halben Dosendeckel Schweinskopf-Sülze, einem Dolchstoß-Messer, einem Fotoapparat und dem mikrigen Stürmer-Star-Schnitt Adolf Hitlers in Nazi-Uniform besteht. Also aus jener Melange von Medien, Mett und Mythen, aus denen bis heute die klebrige Masse größenwahnsinniger Diktatoren zusammengekleistert ist.
Aber es sind auch die Baustellen einer Religion, bei der ein neutestamentarischer Sohn ja irgendwie auch für die bösen Patzer der Schöpfung seines alttestamentarischen Vaters hat büßen müssen (unsere Meinung, nicht die von Augustinus!). Sevrins selbst war als Kind bei den Brüdern im Internat und hat deren sexuelle Übergriffe im Waschraum beobachten müssen. Da fehlte zur Beweisaufnahme irgendwie eine Kamera. Das sind auch so Anekdoten, die prägen.
Gesammelte Rosenkränze und Kruzifixe jedenfalls finden sich zuhauf in Sevriens Bahnhof, nackte Puppen oder eine Penis-Guillotine, aber auch ein Werk, das wir in seiner hintergründigen Schlichtheit bestechend finden – und das gleichzeitig ungemein aktuell geblieben ist. Es besteht aus einer Silbertafel, auf der, fast schon in Beuys-Manier, ein leeres Kupferkreuz klebt. Darunter prangt ein Baustellenschild, auf dem der Künstler die Schuld-Sühne-Problematik auch im Sinne heutiger Umweltkatastrophen oder anderer Generationenkonflikte moralinfrei komisch umgedreht hat:
„Kinder haften für ihre Eltern.“
Joseph Beuys und die Unsichtbarkeits-Maschine
Joseph Beuys in der KunstArztPraxis (Überblicksseite)
Schütze die Flamme.
Denn schützt man die Flamme nicht,
ach eh‘ man’s erachtet,
löscht leicht der Wind das Licht,
das er entfachte.
Brich dann Du
ganz erbärmlich Herz
stumm vor Schmerz.
Pietro Trapassi (1698-1782)
Anmerkung: Auf die Beantwortung unserer 100 Fragen warten wir übrigens immer noch, Herr Beuys! Herr Beuys????
Ein wirklich einzigartiger Mensch Künstler Zeitgenosse.
Mit einer großartigen Gefährtin an seiner Seite!
Danke für die Entdeckung und Darstellung. Da ist der KunstArztPraxis ja wieder ein Coup gelungen, Glückwunsch!
Antwort KunstArztPraxis: Sehr gern geschehen, Herr Sayn! Entdecken ist unser Auftrag. Ihre KunstArztPraxis