Wie wir „Das reisende Auge“ gesehen haben. Teil 2
Wir hatten ja gesagt, dass wir vielleicht noch etwas zu jenem rein visuellen Trialog schreiben würden, in den wir vor Kurzem mit der Ausstellung „Das reisende Auge“ im Marta Herford getreten sind. Auf vielfachen Wunsch machen wir das hiermit wahr und offenbaren unsere intimsten Gedanken.
Zumindest zu acht von zwölf Teilen unserer Collagen, bei denen wir zu den in Herford versammelten Fotos von Gabriele Münter und Kathrin Sonntag eigene Fotos beigesteuert haben – zu allen zwölf war uns zu viel.
Gestern haben wir die ersten vier Trialoge erläutert, heute die letzten.
Und nun, wohlan, Teil 2:
Kathrin Sonntags witzige Doppelbödigkeit finden wir bewundernswert. Beim obigen Bild-Paar in Herford war aber nicht der Witz der Vater des Gehängten. Offenbar wollte Sonntag mit ihrem Foto (links) den Fokus unter anderem darauf lenken, dass Gabriele Münter wie bei ihrem Foto vom Ausleger eines Schiffs auf dem Mississippi bei St. Louis schon lange vor ihrer Karriere als Expressionistin kompositorisch sehen konnte: und dies sowohl In Bezug auf schließende als auch auf öffnende Bild-Elemente.
Für uns – und nicht nur für uns! – ist dieses Bild-Paar das schönste & stimmungsvollste der ganzen Ausstellung, und man wird ja wohl auch mal ganz ohne Witz und doppelten Boden einfach nur schön & und stimmungsvoll sein dürfen. Oder?
Deshalb haben wir dem Bild-Paar von Herford in unserer KunstArztPraxis das schönste & stimmungsvollste Fensterbild beiseit‘ gestellt, das wir in unseren gesamten drei KunstArzt-Leben je gemacht haben. Das Schließende und das Öffnende hat es auch. Und dann gibt es – neben Sonntags Fenster – sogar noch Münters Wasser. In letzterem Fall: nicht den Mississippi, sondern die kroatische Adria.
Bei uns verdanken sich die beiden Elemente – also das Kompositorische und das Sichtbare – einem Lost Place im süddalmatinischen Krvavica. Die Fenster gehören zu einem Monumentalbau im sozialistischen Prunkstil, der einmal ein Lungensanatorium für Kinder und Jugendliche von Militärangehörigen war und nun direkt am Strand, wo der Tourismus boomt, verrottet. Architektonisch ein Meisterwerk, Chapeau. Und keinen kümmert’s.
Wie über Lourdes, so hat KunstArzt1 auch darüber mal ein Foto-Buch gemacht. Gibt’s unten als kostenloses pdf.
Wie oben versprochen: Unser Fotobuch über Krvavica gibt’s hier als kostenloses pdf.
Was für Gabriele Münter bei ihrer Rundreise durch Amerika die damals schon hunderttausendfach verkaufte Touristenkamera Kodak Bull’s Eye No. 2 war, das war für uns in der Jugend der damalige Millionenseller Canon AE-1. Mit dieser Spiegelreflex-Kamera im Gepäck zogen wir mehrmals durch das schon lange vor dem Krieg zerrissene Jugoslawien. Sinnbild dieser Zerrissenheit war für uns der riesige Mirogoj-Friedhof auf Zagrebs Hausberg Medvednica: kommunistische Sterne auf katholischen Gräbern.
1991 zündete der von Serben dominierte jugoslawische Militärgeheimdienst KOS auf dem Mirogoj unter falscher Flagge in der Nähe jüdischer Mausoleen zwei Bomben. Die „Operation Labrador“ sollte die Mär vom neo-faschistischen Staat Kroatien in der Weltöffentlichkeit verankern. Zu dieser Zeit waren wir gerade wieder dort.
Die kurz danach von uns Nostalgikern mit der da schon veralteten AE-1 unserer Jugend geknipste Flora auf dem Mirogoj-Friedhof von Zagreb wurde bei dem Attentat des KOS beschädigt. Aber die Hand auf der Brust über dem gebrochenen Herzen konnten die Agenten der Göttin nicht nehmen. Wobei: Vielleicht ist es ja auch die Hand von jemand ganz Anderem?
Mit unserem Bild jedenfalls wollen wir der komplett handlosen Skulptur Kathrin Sonntags zumindest EINE Hand zurückgeben. Zudem soll es korrespondieren mit dem schönen Kleid auf Münters Foto von Mrs. Allen aus Marshall, Texas.
Und dann wollen wir auch noch zwei Dinge verbinden, die uns in der Ausstellung besonders gut gefallen haben: und zwar den heiligen Ernst von Münters Verwandtschaft, der der Fotografie des 19. Jahrhunderts als Zauber allgemein noch innewohnt – heutzutage stülpt sich ja Jede*r vorm Klicken auf Knopfdruck die Lach-Maske über – mit Kathrin Sonntags Humor.
Unser Lieblings-Foto von Gabriele Münter war in Teil 1 Thema, aber natürlich haben wir auch ein Lieblings-Foto von Kathrin Sonntag. Und weil wir alle Drei ja Freunde einer Kunst sind, die Nähmaschinen und Regenschirme auf einem Seziertisch zusammendenkt, haben wir uns vor Ort intuitiv sofort für Sonntags Birkenhose mit ihrem Feigenblatt (siehe Teil 1) erwärmt. Was soll man sagen? Es war Liebe auf den ersten Blick.
An Gabriele Münters Foto in diesem Arrangement können wir uns offen gestanden gar nicht mehr so recht erinnern, aber es scheint uns eines von den wenigen ihrer Landschafts-Fotos zu sein, die wir eher langweilig finden. Aus den meisten anderen spricht ja schon ein Blick, der das Expressionistische der amerikanischen Ödnis erkennt. Siehe auch hierzu: Teil 1.
Bei unserem trialogischen Zugabe haben wir uns für ein Foto von Robert Bartas steifen Jeans-Hosen entschieden, die im Marta 2022 mal in den Himmel wuchsen. Auf diese Weise wollen wir eine Brücke schlagen: von der Textil-Stadt Herford, der Münters Vater entstammte, ins Land der Baumwolle: namentlich zu den von den Cowboys als „eingezäunte Erdwühler“ (O-Ton Münter) verspotteten Pflanzern in Marshall, Texas, bei denen Gabriele Münter mit ihrer Schwester 1899 für viele Monate unterkam.
Und von Sonntags ebenfalls rein pflanzlicher Birkenhose wieder hinüber zur Kultur besagter Cowboys in der Neuen Welt. Denn „unter Cowboys“ (O-Ton Münter) hatten die Schwestern auch ein halbes Jahr gelebt – im erst zwölf Jahre zuvor gegründeten Plainview (!) mit seiner einen Straße inmitten der Prärie, wo auch unser Lieblings-Münter-Foto (siehe Teil 1) entstand.
Brücken über Brücken.
Über den Schutz des Menschlichen, Allzumenschlichen durch Kleidung, Plastik oder Feigenblätter haben wir ja ebenfalls gestern in Teil 1 unserer kleinen Trialog-Erklär-Serie herumphilosophiert. Wie man in Herford – und auch in unserer Serie –sehen kann, hat Kathrin Sonntag das Thema „schützendes Plastik“ mindestens zwei Mal nicht losgelassen.
Wir sparen uns jetzt das beide Künstlerinnen in Herford verbindende Wortspiel mit dem Sonntagsstaat, aber es ist ja richtig: Auch zwei Sonntagsstaaten wie die, die sich das anonyme Paar aus Moorefield, Arkansas, zur Jahrhundertwende vermutlich extra für Gabriele Münters Foto übergezogen hat, brauchen ihrerseits Schutz und Pflege. Und die bietet heutzutage zum Glück nicht mehr der „Negersklave“ (O-Ton Münter) der Verwandtschaft, sondern, wie von Katrin Sonntags modernerem Pärchen vor Augen geführt, die chemische Reinigung.
In diesem Sinn ist unsere fotografische Zugabe ein verborgenes visuelles Wort- beziehungsweise Bildspiel. Denn das, was vor unseren Augen mitten in Wien in einer Kirchentür verschwand, war ein Wesen, das neben seinen vier Beinen und zwei Händen aus purem Sonntagsstaat bestand, der gerade aus der chemischen Reinigung gekommen war.
Ach, was sagen wir: Wenn wir die Kleiderbügel richtig abgezählt haben, bestand das Wesen ja sogar aus SECHS Sonntagsstaaten, und zwar aus ECHTEN! Also aus solchen, die sich die Diener Gottes am siebten Tage, da ihr HErr ruhte, zur Messe überziehen, um die vor ihnen in eher profanen Sonntagsstaaten knieenden Gläubigen einer – im Grunde natürlich auch rein chemischen! – Seelenreinigung zu unterziehen.
Oder um Paare wie das in Moorefield, Arkansas, vor Gott zu trauen. Aber das nur nebenbei.
Anmerkung: Irgendwo haben wir einmal gelesen, Münter habe in Amerika bestimmte Szenen in ihrem Ablauf hintereinander weggeknipst, um in der Serie eine Art filmischer Abfolge zu suggerieren. Keine Ahnung, ob das so stimmt, aber wir haben trotzdem versucht, dies oben nachzumachen: Kathrin Sonntag hat uns drauf gebracht. In unserem Trialog verschwindet das Menschenpaar deshalb immer mehr hinter der am Ende komplett dominanten Kleidung.
Fanden wir irgendwie ganz witzig. Und haben es deshalb bei DIESEM Trialog gleich nochmal gemacht:
(01.09.2024)
„Kathrin Sonntag und Gabriele Münter. Das reisende Auge“ läuft noch bis zum 12. Januar 2025 im Museum Marta in Herford. Und hier nochmal die letzten drei unbeworteten Bilder unseres Trialogs mit Gabriele Münter und Kathrin Sonntag, zu denen sich natürlich auch noch so EINIGES sagen ließe:
Für reinen Bildgenuss: Als Trialog: „Das reisende Auge“ im Marta Herford – und bei uns
Das Marta in der KunstArztPraxis:
Ein gut bestelltes Haus? Rodney McMillian im Marta
Die Kunst der Stanze: “Annem işçi” im Marta
Cage als Motor: “Long Gone, Still Here” im Marta Herford
Kein Pferdefuß? Lena Henke im Marta
Mit Arnies Augen: “SHIFT” im Marta Herford
“Das sind meine Freunde!” Annette Frick im Marta
Sei Werkzeug deiner selbst! Cinthia Marcelle im Marta
Überall “Dark Data”: Tobias Zielony im Marta Herford
“Sichtbar Unsichtbar”: Ein Gang durchs Marta-Depot
Marta reloaded: Inventur und Vision in Herford
Reine Bildgebung (12): Wie das Marta sammelt
So geht soziale Plastik! Pedro Reyes im Marta
Neue Routen durch die Sammlung: “Marta Maps”
Reine Bildgebung (9): “Marta Maps” in Herford
Eine echte Schau: “Look!” im Marta Herford
+++ Eil +++ Eil +++ Eil +++ Piraten entern Marta!
Katz im Marta: “Sie werden überrascht sein!”
Fotos malen? Trügerische Bilder im Marta
Ihr seid schon ziemlich abgedreht. Und das meine ich als RIESENkompliment! Danke. Maria
Antwort KunstArztPraxis: Abgedrehtheit ist ein Attribut, dass wir uns allzu gerne auf die Fahnen schreiben! Wundervoll. Danke retour! Ihre KunstArztPraxis.
Schön, mal wieder! Danke, dass Ihr Euch der Kunst so literarisch und visuell annähert, so muss man das machen. Ihr seid einmalig.
Herzliche Grüße
Anton Zech
Antwort KunstArztPraxis: Hach, lieber Herr Zech, wie schön! Wenn Sie uns sehen könnten, Sie sähen uns erröten. Bitte bleiben Sie uns gewogen. Ihre KunstArztPraxis