Der Schatten seiner selbst in Bonn: „From Dawn Till Dusk“
Wir müssen gleich kurz philosophisch werden, denn im Kunstmuseum Bonn beleuchtet gerade eine Ausstellung den Schatten in der Gegenwartskunst, die sich sehr klug auf die Antike beruft. Es ist die letzte Schau von Stephan Berg als Intendant. Ein rundherum erhellender Abschluss, wie wir finden.
Mit der Kunst stand der griechische Philosoph Platon auf Kriegsfuß. Das wissen wir, weil KunstArzt3 darüber vor Urzeiten sein Rigorosum abgehalten hat.
Die Kunst sei fern der Wahrheit und des Wissens, heißt es beim antiken Denker: absurde Meinung, nutzloses Blendwerk, geschaffen für die niederen Instinkte des Volkes & von verderblicher Wirkung auf Seele und Gesellschaft.
Wir hätten alle diese Attribute offen gestanden eher Donald Trump zugeschrieben, aber Platon hat Trump bekanntlich ignoriert. Er bevorzugte ja eher so die weisen Diktatoren.

Im Ranking der Wirklichkeit steht der Künstler bei Platon jedenfalls noch unterm Tischler, denn der Tischler ist näher an der göttlichen Idee: für Plato die höchste Wirklichkeit.
Kunst ist Schatten
Meint: Über allen Hölzern schwebt die Idee des Tisches. Dann kommt der konkrete Tisch. Und ganz unten, sozusagen am Boden des Fasses, das niedere künstlerische Abbild (εἰκόνες) des Tischs aus Farbe.
Oder, wie es bei Platon heißt: das „Phantasma“. Der „Seh-Irrtum“. Und jetzt endlich kommt’s: der „Schatten“ (σκιά).
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Nicht nur bei Platon, auch am Boden dieses Tintenfasses auf einem echten (!) Tisch ist die σκιά trügerisch!
Vadim Fishkin, „Coffee and Ink“ (2012), Kunstmuseum Bonn, 2025

Wir erwähnen das alles, weil sich auch Stephan Bergs Ausstellung „From Dawn Till Dusk“, die sich mit dem Schatten in der Gegenwartskunst beschäftigt, kuratorisch auf den ollen Platon beruft.
Genauer: auf das berühmte Höhlengleichnis, das durch einen Kupferstich des Niederländers Jan Saenredam aus dem frühen 17. Jahrhundert in den Ausstellungs-Räumen präsent ist.
Und das uns sagen will, dass wir in Unzulänglichkeit Gefesselten statt der eigentlichen Dinge nur deren Schatten als Abbilder sehen können, also ontologisch komplett im Dunkeln tappen.*
*Phänomenologisch natürlich auch! Aber das
versteht sich ja von selbst.


Die zweite antike Referenz gefällt uns noch besser, weil sie die Geburt der Kunst aus dem Geist des Schattens viel poetischer – und damit in unseren sechs KunstArzt-Augen natürlich wahrer! – erzählt.
Mit der durch Plinius d. Ä. überlieferten Legende von der Tochter des korinthischen Töpfers Butades nämlich, die die Konturen des an die Wand geworfenen Schlagschattens ihres auf ungewisse Fahrt ausziehenden Geliebten mit Kohle nachzog: das Kunstwerk war erfunden.
Mit „The Origin of Painting“ (2018) spielt Marlene Dumas darauf an. Wobei ihre Heldin ganz narzisstisch – oder besser vielleicht: feministisch – den EIGENEN Schatten malt. Zeitgenössisch eben.
Den Augenblick fixieren: Marlene Dumas „The Origin of Painting“ (2018),
Kunstmuseum Bonn, 2025

Man könnte es auch so sagen: In Bonn darf der Schatten endlich Schatten seiner selbst sein, indem er quasi aus sich selbst heraustritt. Das allein finden wir schon ziemlich klasse. Weil man dadurch nämlich sieht, was er so alles kann.
Er kann aus dem Hausmüll unserer Konsum-Gesellschaft Menschen formen (Tim Noble & Sue Webster). Er kann Ängste der Jugend von innen nach außen kehren (Edvard Munch). Er kann die Ungewissheit unserer Ichs – wenn ja: wie viele? – auffächern (Olafur Eliasson).
Er kann die Geister der Erinnerung beschwören (Christian Boltanski). Und er kann die unüberbrückbare Kluft zwischen reich und arm in den Mantel des Schweigens hüllen (David Claerbout).

Edvard Munch, „Pubertät (Bei Nacht)“ (1902), Kunstmuseum Bonn, 2025

Er kann aber auch die Anwesenheit des eigentlich abwesenden Künstlers ins Bild holen (Jenna Gribbon und Lee Friedlander). Er kann sogar die dunklen Seiten des weißen Kolonialismus sichtbar machen – und zwar auf scherenschnittartig ambivalente Weise (Kara Walker).

Er kann im Schein – ja: im Schein von was denn eigentlich? – auf einer Laterne turnen und damit mehr „Wirkliches“ preisgeben als die materielle Welt: wie bei Zilla Leutenegger.
Oder er kann selbst gemalt sein wie bei Johanna von Monkiewitsch.
Und damit schließt sich der Kreis zur betrügerischen „Schattenmalerei“ – σκιαγραφία, noch so ein Begriff bei Platon! – und zum ersten Kunstwerk vom Schatten des Geliebten der Tochter des Töpfers.
NACH dessen Abreise, versteht sich. Denn sein Schatten ist als Erinnerungs-Kunst ja auf ewig geblieben.
Zilla Leutenegger, „Sunset Neighbourhood“ (2009/2021), Kunstmuseum Bonn, 2025,
nebst einem Selbstporträt von KunstArzt1 als Schattenfotografen!

Dass der Schatten in der Kunst der Gegenwart eine so starke Bedeutung hat: Das hätten wir vor „From Dawn Till Dusk“ offen gestanden nicht gedacht. Und dass es sogar Freude machen könnte, über ihn lange nachzudenken, noch viel weniger.
Deshalb wollen wir dem ollen Platon Folgendes ins Stammbuch schreiben:
Die Kunst mag vielleicht ein Schatten sein, aber sei’s drum: Wir haben nur den einen! Und auf den wollen wir in Unzulänglichkeit Gefesselten auf keinen Fall verzichten.
Sonst geht es uns wie Peter Schlemihl: Wir würden es schon bald bereuen. Aber wenn wir dann versuchen würden, den Schatten wieder einzufangen wie der arme blaue Schlemihl auf dem in Bonn gezeigten Holzschnitt von Ernst Ludwig Kirchner: Dann wäre es zu spät.

Ernst Ludwig Kirchner: „Schlemihls Begegnung mit dem Schatten“ (1915)
Einen Tisch kann jeder mit Geschick eins zu eins nachbauen. Aber jedes Abbild eines Tisches ist, wenn es denn Kunst ist, einzig in seiner Art. Näher als mit Kunst können wir dem eigentlichen Ding nicht kommen. Das ist so unsere ontologische Tisch-Idee von höchster Wirklichkeit.
Deshalb gehen wir auch lieber ins Museum als in die Höhle, lieber Platon. Denn im Museum können selbst die Schatten, diese Seh-Irrtümer und Phantasmen, erleuchten. (20.07.2025)
„From Dawn Till Dusk. Der Schatten in der Kunst der Gegenwart“ ist noch bis zum 2. November 2025 im Kunstmuseum Bonn zu sehen. Zur Ausstellung ist ein sehr schöner & informativer Katalog erschienen.

„From Dawn Till Dusk“ ist die letzte Ausstellung von Stephan Berg, der sich nach 17 Jahren am Kunstmuseum Bonn in den Ruhestand (?) verabschiedet. In diesem Sinne: Alles Gute für die Zukunft, Stephan Berg! Wir werden Sie vermissen. Und die Gespräche mit Ihnen auch. Ihre KunstArztPraxis.

Ach ja, doch noch eins: Auch in der Literatur spielt der Schatten eine bedeutende Rolle – nicht nur bei Adelbert von Chamisso! Deshalb haben wir in unsrem Beitrag oben zwei Romantitel zweier unserer Lieblingsautoren versteckt. Findet Ihr sie alle?
Das Kunstmuseum Bonn in der KunstArztPraxis:
Blick durchs Schaufenster. Bruno Goller in Bonn
Reine Bildgebung 26: Bruno Goller in Bonn
Reine Bildgebung 23: Katharina Grosse in Bonn (leider gefressen von der Unsichtbarkeits-Maschine)
Der brennende Dornbusch. Katharina Grosse in Bonn (leider gefressen von der Unsichtbarkeits-Maschine)
An der Schnittstelle: Louisa Clement in Bonn
“Menschheitsdämmerung” in Bonn: Der Sturm ist da (leider gefressen von der Unsichtbarkeits-Maschine)
Von den Dingen: Wiebke Siem im Kunstmuseum Bonn
Porno, Killer? Zum Lassnig-Bild-Verbot der DB in Bonn
Die Luft der Yoko Ono: “Welt in der Schwebe”
Im Ohr von Beethoven: “Sound and Silence” in Bonn
Gerhard Richter Retro: “Über Malen” in Bonn (2017)
Schönheits-OPs (1): Das Kunstmuseum Bonn
Hallo und vielen Dank für ihre Arbeit.
Herzliche Grüße
Winfried Becker
Äh, ich glaube, ich kann lösen! „Der Schatten des Körpers des Kutschers“ von Peter Weiss und „Der Schattenfotograf“ von Wolf-Dietrich Schnurre?
Anwort KunstArztPraxis: Chapeau, Herr HeribertB. Ganz große Klasse. Ihre KunstArztPraxis