Cage als Motor: „Long Gone, Still Here“ im Marta Herford
Bildende Kunst lässt sich mit Klang erweitern, John Cage und Fluxus haben es vorgemacht. Jetzt zeigt das Marta zeitgenössische Positionen, die Visuelles mit Stimmen, Tönen und Geräuschen polyphon kombinieren: Teil einer aufs Multisensorische abzielenden Neuausrichtung. John Cage reloaded inklusive.
Für Mary Bauermeister (1934-2023). Long gone, still here.
Wir haben ja öfters mit Mary Bauermeister am Küchentisch in Rösrath gesessen, ein paar Mal ging es um Musik. Wir sprachen über Stockhausen, mit dem sie Partitur-Skulpturen komponiert hat, über Hauschka, der in ihren Augen viel genialer als ihr Ex-Mann war.
Und über Nam June Paik, der wie sein Vorbild Cage Klaviere präparierte, ihm zu Ehren auch zersägte oder aus dem Fenster warf, sprachen wir auch.
Aber über John Cage selbst, den Paik 1960 in Bauermeisters berühmtem Atelier in der Kölner Lintgasse während der Aufführung seiner „Etude for Piano“ gemeinsam mit David Tudor ohne Vorwarnung shampooniert hat?
Ausgerechnet über Cage schwiegen wir in stiller Übereinkunft all die Jahre.
(Bild: Nam June Paik shampooniert John Cage in Mary Bauermeisters Kölner Atelier 1960 die Haare. Der Pianist James Tudor wartet noch auf seinen Einsatz.)
Heute finden wir das schade. Nicht nur, weil sich Cage kurz vor seinem Tod einmal vor uns verbeugt hat (siehe roten Appendix-Kasten unten). Wir finden es schade, weil mit ihm und Bauermeister und Paik und Fluxus unseres Erachtens Vieles von dem begann, was jetzt in einer toll kuratierten Schau im Marta unter dem Titel „Long Gone, Still Here“ zu sehen ist.
Da hätten wir schon gern gewusst, was Mary Bauermeister davon gehalten hätte.
Fluxus-Mix, sehr zeitgemäß
Für uns jedenfalls präsentieren die 26 internationalen Positionen auf sehr eigene Art und Weise jenen Mix aus Sound, Objekt- und Konzeptkunst, jenes gewinnbringende Verwischen medialer Grenzen, für das Cages 1952 von David Tudor uraufgeführte Komposition „4‘33““ den Takt vorgab.
Von daher ist es in unseren Augen kein Zufall, dass Cages Stück nicht nur in der Ausstellung eine wichtige Rolle spielt, sondern auch zu ihrer Eröffnung von der Nordwestdeutschen Philharmonie unter Jonathon Heyward sehr originell neu aufgeführt worden ist.
Bekanntlich wird in den rund viereinhalb Minuten der drei Sätze von „4‘33““ kein einziger Ton gespielt; bei der Uraufführung durch den von Paik bei Bauermeister mit Cage gemeinsam shampoonierten Tudor bot das Öffnen und Schließen des Klavierdeckels den meditativen Rahmen für die Möglichkeit, sich auf den Klang der Stille zwischen diesen beiden Akten einzulassen.
Wie man Stille dirigiert
Zur Ausstellungseröffnung in Herford betonte Jonathon Heyward das Performative des Stückes: Während die Musiker nach dem Stimmen ihrer Instrumente rahmenlos untätig blieben, versuchte Heyward dieses klanglose Nichts mit einem Dirigat aus Tai-Chi-Gesten zwischen den Satz-Schlägen förmlich zu ergreifen: natürlich mit dem Rücken zum Publikum, wie bei der lateinischen Messe.
Diese für „4‘33““ ziemlich wichtige rituelle Hermetik, dieses ganz große, sehr zeitgemäß visualisierte Leise geht in den dynamischen Schnitten der Video-Dokumentation des Marta leider verloren: schnittlos und frontal aus Sicht des Publikums hätte uns in diesem Fall besser gefallen. Aber man kann das Wichtige trotzdem erahnen, deshalb zeigen wir sie hier.
Und wer, wie wir, leider nicht dabei sein konnte, war, wie wir, ohnehin leider nicht dabei.
Wichtig ist auf jeden Fall, dass die Partitur von „4’33““ eigentlich nur in der konkreten Aufführung in frischer Einmaligkeit erwacht. Dass dabei immer neue Geschichten entstehen, gehört zu dieser Form komponierter Konzeptkunst unbedingt dazu.
So sollte man wissen, dass Lydia Ourahmanes Version „4’33“ (for John)“, die im – diesmal grandios mit Teppichboden ausgelegten! – hohen Dom des Marta einmal alle 85’27“ (nicht) zu hören (und auch nicht zu sehen) ist, nach der Aufhebung des nationalen Corona-Lockdown am 6. Mai 2020 im algerischen Boudjima entstand, wo die Eltern der Künstlerin leben.
Der durch Raum und Zeit gespannte Bogen
Es ist eine Version, die Cages Idee als digitale Aufzeichnung von etwas Unaufzeichenbaren wieder komplett entmaterialisiert – und ihr trotzdem einen geographisch & historisch ganz neuen Aspekt beisteuern kann: ein Gegenmodell auch zur stark visualisierenden Eröffnungs-Performance. Und ebenfalls NUR vor Ort im Marta erlebbar.
Dieser durch Raum und Zeit gespannte Bogen zwischen zwei komplett unterschiedlichen Interpretationen fanden wir besonders gut.
(Bild: die schweigende Glocke von Hiwa K. während der digitalen Aufführung von Lydia Ourahmanes „4’33“ (for John)“ im hohen Marta-Dom. Herford 2023)
Ach ja: Auf der Hinfahrt nach Herford haben wir uns wechselseitig aus Cages „Vortrag über nichts“ (1959) in Cages Band „Silence“ vorgelesen, der in seiner Taktung einer Partitur gleicht.
Und da ist viel von der Sichtbarkeit der Töne, der Umrahmung der Stille und dem Musikstück als Dichtung die Rede.
Cage stellte sich wohl etwas vor, das zwischen Auge, Ohr und Hirn poetisch und intellektuell die Schwebe hält.
Von daher hätte ihm das, was in „Long Gone, Still Here“ zu sehen und zu hören – oder eben nicht zu sehen oder nicht zu hören – ist, sicher gefallen.
Mary Bauermeister sicher auch.
(Bild: Michaela Melián, „Cochlea“ (2023), Marta, Herford 2023)
Das Licht der Route einer Flucht
Die zwölf Klangkörper im Marta Dom zum Beispiel, die, nacheinander abgespielt, zusammen wieder eine 90-minütige Partitur ergeben. Michaela Melián ist dabei, die über eine Notation und 16 mit unterschiedlich langen Kabeln versehene Glühbirnen die Fluchtroute der Geigerin Susanne Lachmann vor den Nazis sinnfällig macht.
Oder Hiwa K. mit einer aus irakischen Kriegsabfällen gegossenen Glocke, die zu Beginn jeder Dom-Paritur von Marta-Mitarbeiter*innen geläutet wird.
Und dann geht es noch um das Anstimmen von Beethoven, den Kult um Depeche Mode und den Abgesang an ein abgeschaltetes Bergwerk.
Es geht um Licht und Rhythmus, den Sound von Raum, Zeit, Gefühl und Erinnerung, den Zauber weit entfernter Klänge Down Under.
Es geht um die nostalgische Magie erzählter Träume aus Wählscheiben-Telefonen, den Zusammenhang von Hörverlust und gesellschaftlicher Teilhabe, das trügerische Muschelrauschen aus trügerischen Muscheln. Und um den Ton als Waffe.
(Bild: Stimme aus dem Hörer von Cardiff & Miller: „Kathmandu Dreams (#6)“ von 2007, aktiviert 2023 im Marta Herford)
Bitte langsam, laut und kurz
Über diese im Marta noch anderthalb Monate erlebbare Poesie für Auge, Ohr und Hirn hätten wir gerne mit Mary Bauermeister, die am Ende fast so taub war wie Beethoven, gesprochen. Und über Cage als Ausstellungs-Motor. In Rösrath, am Küchentisch. Doch diese kluge Stimme ist verstummt.
Die Stimme auf ihrem längst abgestellten Anrufbeantworter im Arbeitszimmer in Rösrath allerdings haben wir kurz vor ihrem Tod noch aufgezeichnet. Kein traumhafter Einfall wie bei Cardiff & Miller, aber immerhin: long gone, still here.
(07.01.2024)
„Long Gone, Still Here. Sound als Medium“ ist noch bis zum 25. Februar 2024 im Museum Marta in Herford vor Ort teilweise (nicht) zu sehen & (nicht) zu hören. Toll.
Appendix: Wie sich John Cage einmal vor uns verbeugt hat
Einmal hat sich John Cage vor uns verbeugt. Zumindest vor einem Teil von uns, wir waren ja nicht alle da. 1991 war das, ein Jahr vor seinem Tod, während der Juli-Festwochen in Zürich, die ihm und James Joyce gewidmet waren. Wir saßen in der Tonhalle, erst gab es Beethoven, dann Mozart, dann eben Cage: ein Stück für Quartett und vier Swatch-Uhren, wenn wir uns recht erinnern. Es ist ja schon so lange her.
Auf jeden Fall war es rund 40 Jahre nach der Uraufführung von „4’33“.
Erst dachte das Publikum wohl, die Musiker stimmten ihre Instrumente: Es wurde gemurmelt und getuschelt wie in der Pause. Als dann klar war, dass das Stück längst begonnen hatte, regte sich mit Sitzeklappern und anschwellendem Gelächter akustischer Widerstand. Reihenweise und teils Türe knallend verließ Volk den Saal. Das Ende des Stückes bekam selbst drinnen kaum jemand mit.
Auch uns war etwas so Unerhörtes noch nie zuvor zu Ohren gekommen, wir stammen ja aus dem Sauerland. Aber anders als den Entgeisterten leuchtete uns der Mix aus Klang, Zeit und Zufall auf Anhieb unumwunden ein. Also nahmen wir unseren ganzen Mut zusammen, erhoben uns demonstrativ von unseren Plätzen und spendeten mit einem kleinen Fähnlein uns folgender Aufrechter (es war nur eine Handvoll) Applaus.
Da stand ein paar Reihen direkt vor uns ein Mann auf (in unserer verblassenden Erinnerung ist es ein eher kleiner, gebrechlicher Mann), drehte sich zu uns um, sah uns etwas traurig lächelnd in die Augen, verbeugte sich – und ging gemessenen Schrittes hinaus.
Dieser Mann war John Cage.
Anmerkung 1: Uns ist in diesem Rahmen noch wichtig zu betonen, dass Cage seine Inspiration für „4’33““ nach eigener Aussage aus der Bildenden Kunst, beim Betrachten der „White Paintings“ von Robert Rauschenberg nämlich, erhielt. Ebenso wichtig finden wir, dass Cage die Nachfolge-Komposition „4’33“ No. 2″ Yoko Ono gewidmet hat: aus Gründen, wie man heutzutage so schön sagt.
Zu Onos 90. Geburtstag 2023 haben wir dieser großen Künstlerin 90 neue Grapefruits geschenkt, zuvor hatten wir in Bonn verpackte Luft von ihr gekauft. Und im September 2024 werden wir in Düsseldorf in ihre Retrospektive im K20 gehen. So viel steht jetzt schon fest.
Anmerkung 2: Sicher wird dem ein oder anderen das, was wir oben zu Cage & „Long Gone, Still Here“ geschrieben haben, schrecklich überkandidelt erscheinen. Für alle anderen gilt das Bonmot von James Joyce zur Sünde von Dorian Grey, über die niemand spricht, also alle schweigen: „Jeder, der sie erkennt, hat sie begangen“.
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Ach ja – weil die Bilder bleiben, selbst, wenn die Stimmen & Töne verklingen:
Ja. Grandios. Weiter so. Mehr davon!
Grandios. Und Eure Fotos sind mal wieder der Kracher. Wie ihr das Hörbare (und Nicht-Hörbare) sichtbar macht. Danke!!! Ihr seid toll. Ella
Wow. Vielen Dank für diesen wieder einmal herausragenden Artikel. Immer wieder sensationell, wie ihr die Dinge zu verknüpfen versteht. Danke!